"Mensch, hier kannste Moos holen!"

06.11.2009 | Stand 03.12.2020, 4:31 Uhr

Schlange stehen wie im Sozialismus: Im Neuen Rathaus von Ingolstadt wird am 11. November 1989 das Begrüßungsgeld ausgezahlt. Jeder DDR-Bürger bekommt einen Hunderter in harten D-Mark West.

Ingolstadt (DK) Unglaublich, Wahnsinn, nicht zu fassen – die Menschen in Westdeutschland reagieren zunächst mit Staunen auf die Revolution in der DDR. Als Anfang November 1989 das alte System zusammenbricht, überstürzen sich auch in Ingolstadt die Ereignisse, denn nun kommen die Flüchtlinge in Scharen.

Einer der Brennpunkte ist die Pionierkaserne Auf der Schanz, wo bereits am Tag des Mauerfalls, dem 9. November, über 400 Männer, Frauen und Kinder auf ihre Weiterreise warten. So wie der sechsjährige Oliver, der allerdings einer DK-Reporterin seinen festen Entschluss mitteilt: "Ich will jetzt hier wohnen bleiben und nicht mehr weg." Kaum hat der Bub das gesagt, unterbricht ihn der Vater energisch. "Bis nach Hamburg rauf" wolle er mit seiner Familie, er wisse aber noch nicht, "von was, mit was".

Zurück in die alte Heimat möchte kaum noch jemand. "Die haben uns lange genug betrogen", schimpft einer der Übersiedler auf die DDR-Oberen, "wir waren demonstrieren und alles, aber was nutzt das schon. Ich hab’ die Schnauze voll." In Windeseile haben Bundeswehrsoldaten eine Massenunterkunft eingerichtet. In einer Ausbildungshalle der Kaserne stehen 200 Doppelstockbetten für die Flüchtlinge. Mitarbeiter des Arbeitsamtes sitzen an einem provisorischen Schalter und geben erste Tipps für einen beruflichen Neuanfang im Westen. Sogar ein Ingolstädter Steuerberater steht bereit und versucht, Jobangebote von örtlichen Mittelstandsfirmen an die Neuankömmlinge weiterzugeben. Leichte Zweifel befallen eine 29-jährige Lehrerin aus Ostberlin, die ebenfalls "rübergemacht" ist. "Eigentlich hab’ ich auch selber immer wieder gesagt, dass Davonrennen keine Lösung ist." Aber dann hatte die Oma aus dem Westen schon eine neue Wohnung besorgt – für die Familie das Signal zum Aufbruch. Doch je mehr Menschen so handelten, meint die Frau selbstkritisch, desto länger werde es dauern, bis sich der Lebensstandard in der DDR verbessere, "denn die Lücken, die da jetzt entstehen, müssen ja erst mal wieder aufgefüllt werden". Dass es die DDR ein Jahr später gar nicht mehr geben wird, kann ja Anfang November 1989 in einer Ingolstädter Bundeswehrkaserne noch niemand wissen.

Nicht nur durch die neu gewonnene Freiheit sind die Flüchtlinge wie elektrisiert, auch das Begrüßungsgeld lockt die Menschen in den Westen. Hundert D-Mark echtes Geld bar auf die Hand statt der sozialistischen "Alu-Chips" – dafür fahren die Menschen aus Leipzig und Dresden und Zwickau meilenweit. Nach dem Begrüßungsgeld winken noch 40 Mark Willkommensgeld für den Zweitbesuch im Westen.

Das Dumme ist bloß, dass selbst der Stadtkämmerer nur mit Mühe soviel Bares auf einen Schlag auftreiben kann, schon gar nicht an einem Wochenende wie dem 11. und 12. November. An diesem Samstag tun sich im Neuen Rathaus von Ingolstadt unglaubliche Dinge. "Nur hereinspaziert", begrüßt Stadtmitarbeiter Ernst Jakubek die Gäste, "hier bekommen Sie Ihr Geld!" Drinnen ein strahlender Finanzbürgermeister Hans Amler, der zuschaut, wie ein Hunderter nach dem anderen ausgezahlt wird.

Der Kämmerer hatte per Fernschreiben vom Innenministerium die Botschaft erhalten, dass die Stadt das Begrüßungsgeld an die DDR-Bürger weitergeben soll und später vom Staat zurückbekommt. Bis die 30 000 Mark Bargeld aus dem Stadtsafe jedoch aufgetrieben waren, musste Amler sein ganzes Organisationstalent aufbieten. Die Übersiedler interessiert das verständlicherweise überhaupt nicht. "Mensch Reinhard, hier kannste dein Moos holen", jubelt einer seinem Kumpel zu. Ein anderer ist traurig, dass er seinen Hunderter nicht gleich ausgeben kann, weil die Geschäfte am Nachmittag geschlossen sind. Zwei Wochen später zieht die Stadt eine Zwischenbilanz der Reisewelle. 300 Übersiedler haben sich in Ingolstadt niedergelassen. Langsam werden die Wohnungen knapp. Helfen soll ein "Wohnungspool", den die Stadtverwaltung organisiert.