Meine Freundschaft mit dem Dalai Lama

05.07.2020 | Stand 23.09.2023, 12:44 Uhr
Franz Alt
Seit 1981 hat Franz Alt (l.) das geistige Oberhaupt der Tibeter 40 Mal getroffen. Zum Abschied reiben sie stets die Nasen aneinander. Der Journalist Franz Alt ist 81 Jahre alt und moderierte 20 Jahre lang das ARD-Politmagazin "Report". Mit dem Dalai Lama gemeinsam schrieb er mehrere Bücher. −Foto: Alt

Der Publizist Franz Alt ist seit fast 40 Jahren mit dem Dalai Lama befreundet und berichtet über ihn, dass er keine Feinde kenne und nur eine wirkliche Religion: ein gutes menschliches Herz.

In allen Umfragen gilt er als der sympathischste Mensch unserer Zeit. Trotz Corona, Klimawandel, Artensterben und Flüchtlingsströmen ist der Dalai Lama ein großer Optimist und Visionär geblieben. Obwohl er seit über 60 Jahren als einer der ältesten Flüchtlinge der Welt im Exil lebt, ist er überzeugt: "Das 21. Jahrhundert kann noch immer das fortschrittlichste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte werden."
Seit 1981 haben wir uns 40 Mal getroffen, 15 Fernsehsendungen produziert und mehrere Bücher gemeinsam publiziert. Unser vorletztes Buch "Ethik ist wichtiger als Religion" ist in 23 Sprachen übersetzt und wurde ein Welt-Bestseller. Soeben erschien unser neues Buch "Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt".
Darin mahnt er den raschen Umstieg auf erneuerbare Energien an. Er habe jeden Tag von Dharamsala aus die Berge des Himalaya vor Augen. Dort findet seit Jahren eine dramatische Eisschmelze statt. Und diese "wird einen heute noch unvorstellbaren Wassernotstand mit sich bringen. Zwei Milliarden Inder und Chinesen werden darunter leiden, es besteht sogar die Gefahr von Wasserkriegen zwischen den beiden Atommächten", befürchtet er. Diese Gefahr ist real, wenn man bedenkt, dass die zehn größten Flüsse Asiens im Himalaya entspringen und bald nur noch wenig Wasser führen werden. "Die Klimafrage ist die Überlebensfrage der Menschheit", sagt er im Buch.
Dalai Lama und Buddha: Beide wären heute GrüneFür Buddhisten, die an Wiedergeburt glauben, sei die Bewahrung der Schöpfung besonders wichtig, sagt er, denn "wir kommen ja wieder" - und lacht. "Ich wünsche mir und bete dafür, dass wir gegenüber der Erde eine größere Sorgfalt walten lassen. Ich bin ein Grüner - auch Buddha wäre heute ein Grüner. In Europa würde ich heute die Grünen wählen", betont der Dalai Lama.
Wenn ich "Seine Heiligkeit" - er selbst nennt sich einen einfachen Mönch - heute frage, was die wichtigste Überlebensstrategie unserer Zeit ist, sagt er: "Zum Überleben der Menschheit ist das Bewusstsein des Gemeinsamen wichtiger als das ständige Hervorheben des Trennenden." Das ist sein großes Lebensthema geworden: Die Welt braucht mehr religiöse und politische Toleranz, mehr Mitgefühl, er fordert in unserem neuen Buch sogar eine "Weltrevolution des Mitgefühls".
Wichtig ist ihm vor allem eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. Er kenne nur eine wirkliche Religion: "Ein gutes menschliches Herz." Obwohl die chinesischen Besatzer in den letzten Jahrzehnten einen "kulturellen Völkermord" angerichtet haben und für circa eine Million Tote in Tibet verantwortlich seien, sagt er: "Natürlich bete ich auch für die kommunistischen Führer in China. Ich kenne keine Feinde. Es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe." Mit seiner konsequenten Politik der Gewaltlosigkeit trifft er bei seinen Landsleuten nicht nur auf Gegenliebe. Vor allem junge Tibeter kann man sagen hören, dass diese Philosophie des Religionsführers bisher "ja gar nichts gebracht" habe. Doch er bleibt dabei: "Gewalt erzeugt nur Gegengewalt, das lehrt doch die Geschichte." Eher trete er als Dalai Lama zurück, als dass er zur Gewalt aufrufe.
Mit 90 will er entscheiden, ob es einen Nachfolger gibtTibet werde eines Tages frei sein, davon ist er tief überzeugt. "Gewaltfreiheit heißt auch Geduld haben", hat er mir oft gesagt. Man dürfe nicht kurzfristig denken, sondern brauche langfristige Strategien. Auf meine Nachfrage, was das konkret heiße, meint er: "Die Strategie der Chinesen in Tibet besteht in Waffen, Gewalt und Unterdrückung. Unsere Strategie ist die Wahrheit. Gandhi hat bewiesen, dass diese Strategie langfristig die überlegene ist." Und fügt hinzu: "Von seinen Feinden kann man übrigens am meisten lernen. In einem gewissen Sinn sind sie unsere besten Lehrer." Dann lacht er lang und laut.
Auch China habe sich in den letzten drei Jahrzehnten sehr geändert. Heute praktizierten im kommunistischen China 400 Millionen Buddhisten und 200 Millionen Christen ihre Religion. Das verändere eine Gesellschaft von innen. Langfristig habe die Wahrheit und die Freiheit immer jedes totalitäre Regime besiegt, gibt er sich überzeugt.
Auch was seine eigene Lebenszeit angeht, ist er optimistisch: Mit 90 werde er mit seinen Beratern darüber entscheiden, ob es einen weiteren Dalai Lama geben werde. Auch eine Frau könne sein Nachfolger sein, sagt er mir seit Jahrzehnten. Die kommunistische Partei beansprucht, über die Nachfolge zu entscheiden. Sein Kommentar dazu: "Dann wird es wohl keinen Nachfolger geben." Er hat mir mal erzählt, dass er geträumt habe, 113 Jahre alt zu werden. "Wollen Sie das wirklich?", frage ich zurück. Er lacht wieder sein gurgelndes Dalai-Lama-Lachen und sagt: "Dann kann ich ja noch lange die Chinesen ärgern." Jedes Mal, wenn der Dalai Lama und ich uns verabschieden, legt er mir eine Kata, einen Glücksschal aus weißer Seide mit den traditionellen Glückszeichen, um den Hals, nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände, unsere Stirne und Nasen berühren sich in Freundschaft, wir umarmen uns lange und spüren, dass Liebe und Frieden und Gerechtigkeit unter uns Menschen möglich sind. Der Geist ist es, der dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Freundschaft Kraft verleiht.

DK


Franz Alt