Hilpoltstein
"Mein Team sollte man nicht unterschätzen"

Europameisterschaft startet - Wir haben Aktive, die für Vereine der Region im Einsatz sind, zu ihren Erwartungen befragt

10.06.2021 | Stand 07.08.2021, 3:34 Uhr
Bilder wie diese von Europameisterschaften in den vergangenen Jahren - links die deutschen Fans, rechts die türkischen - wird es heuer nicht geben. Corona-Risiken sieht Spielleiter Thomas Jäger weniger in den Stadien selbst, sondern im Umfeld der Spielstätten, etwa die An- und Abreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. −Foto: von Jutrczenka, Marks/dpa

Hilpoltstein/München - Ein Jahr später als geplant beginnt am Freitag die Fußball-Europameisterschaft.

"Schuld" ist, wie könnte es auch anders sein, das Coronavirus, sinkende Inzidenzzahlen lassen erst jetzt eine Austragung zu. Was halten Fußballer und Funktionäre in der Region davon? Welche Chancen räumen sie der deutschen Mannschaft und den Teams ihrer Heimatländer ein? Wir haben uns umgehört.

Schon früh - bereits im Januar 2020 - wurde erstmals über eine Absage nachgedacht, im März entschied man sich, das Turnier zu verschieben. Covid-19 sei ein zu großes Risiko, waren sich die Verantwortlichen einig. Doch ein abgesagtes Turnier würde eine garstige Lücke in den Geschichtsbüchern der Europameisterschaft hinterlassen. So entschied man sich, dass die Bezeichnung "EM 2020" beibehalten wird, auch wenn das Eröffnungsspiel ein Jahr später angepfiffen wird. Außergewöhnlich mag dies bereits sein, dazu kommt, dass die Austragungsorte auf elf Städte in Europa verteilt sind. Mit Hygienekonzepten soll ermöglicht werden, dass Zuschauer wieder zugelassen sind. In München sollen etwa 14000 Menschen Spiele verfolgen können.

Unter genauer Beobachtung wird die deutsche Nationalmannschaft mit Trainer Joachim Löw stehen, für den die vierte Teilnahme am Wettbewerb zugleich das Ende seiner 15-jährigen Karriere bedeutet. Es wird sicher nicht einfach für die Deutschen, die nicht unbelastet an den Start gehen. Noch frisch im Gedächtnis sind die WM 2018 mit der 0:6-Klatsche gegen Spanien und die Niederlage gegen Nordmazedonien im März 2021. Die Gruppengegner Frankreich und Portugal fordern die Löw-Elf bereits in höchstem Maße heraus. Ob die Mannschaft also nach dem Vorbild der U21 den Titel holen kann, wird sich zeigen.

Thomas Jäger, Spielleiter Bezirk Mittelfranken: Dass die EM ein Jahr später als geplant ausgespielt wird, hält Thomas Jäger für verantwortbar. "Corona ist noch nicht vorbei, ein gewisses Risiko wird immer mitschwingen. Das Konzept, es soweit wie möglich abzuschwächen, ist zweifellos ausgereift. " Tests, Masken und Abstandsregeln müssten von den Zuschauern konsequent befolgt werden. Jägers Bedenken gelten eher dem "Drumherum": Die An- und Abfahrten in S-Bahnen, "das könnte schwierig werden. " Dieses Thema gelte auch für den Austragungsmodus, als paneuropäische EM in elf Ländern. Dies dürfte einmalig bleiben, "weil es sich ja ursprünglich um eine Jubiläumsmeisterschaft gehandelt hat", meint Jäger, der im Übrigen die Entscheidung von Joachim Löw, nach dem Turnier aufzuhören, für richtig hält. "Es ist ein enormer Druck entstanden, den es abzubauen gilt. Dazu kommen die internen Querelen. Man sollte nicht nur schimpfen, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer das Amt eines Funktionärs ist. " Denn auch der eigene Verband ist nicht gerade klein: Der Bayerische Fußball-Verband stehe weltweit an 17. Stelle in der Größenordnung.

Dass Thomas Müller und Mats Hummels wieder im Kader sind, werde sich positiv auswirken, ist Jäger überzeugt. Das 0:6 und das 1:2 haben für "ein tiefes Tal der Tränen gesorgt. Das muss man durchleben und daraus lernen. " Der Kreisspielleiter traut dem deutschen Team das Halbfinale zu. "Wer Europameister wird, weiß ich nicht. Frankreich und Italien werden eine Rolle spielen. "

Jevgen Kulbachuk, Ukraine, TSV Wolfstein: Das siebte Mal nimmt die Ukraine an einer Europameisterschaft teil, konnte sich jedoch vier Mal nicht qualifizieren und musste in den Jahren 2012 und 2016 die Segel nach der Vorrunde streichen. Der Star der Truppe ist eindeutig der Trainer Andriy Shevchenko, der seit fünf Jahren im Amt ist. Der einst begnadete Stürmer gewann 2003 mit dem AC Mailand die Champions League und wurde ein Jahr darauf Europas Fußballer des Jahres. Jevgen Kulbachuk, Verteidiger beim Kreisligisten TSV Wolfstein, kennt "seine" Mannschaft genau und äußert sich auch allgemein zur EM. "Ich glaube, dass wir keine Bedenken haben müssen, wenn jetzt die Europameisterschaft ausgetragen wird. Es ist begrüßenswert, dass man Voraussetzungen geschaffen hat, dass Zuschauer in die Stadien dürfen, auch in mehreren Ländern", so Kulbachuk.

Den Deutschen traut er mindestens das Viertelfinale zu. Joachim Löws Entscheidung, danach den Rückzug anzutreten, sei richtig, denn 15 Jahre seien genug. "Er tritt mit einer guten Mischung aus erfahrenen und jungen Leuten an und wird ein ordentliches Turnier spielen. " Positiv ist auch sein Blick auf die ukrainische Mannschaft: "Mein Team sollte man nicht unterschätzen. Wir werden in der Gruppe Zweiter hinter Holland vor Österreich und Nordmazedonien. " Die Ukraine habe ihre Stärken in der Offensive mit Roman Yaremchuk, Andrey Jarmolenko und Ruslan Malinovskyi. "Wie weit die Reise geht, kann ich nicht sagen. Titelfavorit ist für mich Frankreich neben Italien. "

Murat Yilmaz, Türkei, TSV Freystadt: Dass die Europameisterschaft jetzt doch stattfinden kann, ist nach Ansicht von Murat Yilmaz der UEFA zu verdanken, die sorgfältig geplant hat. Vor allem scheint ihm wichtig, dass Zuschauer vor Ort sein dürfen. "Problematisch könnten eventuell An- und Abreise werden. Interessant finde ich, dass in elf Ländern gespielt wird, es sollte aber die Ausnahme bleiben. " Wegen der Spiele in München bekomme Deutschland einen Vorgeschmack auf 2024, wenn es alleiniger Ausrichter ist. Dann aber ohne Joachim Löw: "Dass er seinen letzten Auftritt hat, finde ich in Ordnung. Im Team ist etwas die Luft raus, es braucht frischen Wind", sagt Yilmaz. Er glaubt, dass das Viertelfinale Endstation für den dreifachen Titelträger sein wird.

Sein Heimatland, die Türkei, befinde sich auf einem guten Weg, auch weil man 2019 Coach Senol Günes zurückgeholt hatte, der 2002 die Türkei auf den dritten Platz der WM führte. "Wir fürchten keinen Gegner in der Gruppe, weder Holland noch Schweden oder Wales. Wir haben in der Qualifikation sogar Frankreich mit 2:0 bezwungen. Unsere Stärken liegen im Angriff mit Enes Ünal, dem Düsseldorfer Keman Karaman, Barak Yilmaz sowie Hakan Calhanoglu, der in Leverkusen war, und Caglar Söyüncü. " Die Türkei hat sich einiges vorgenommen, es wird spannend. Favorit ist für Yilmaz Frankreich.

Alberto Mendez, Spanien, Trainer der TSG 08 Roth: Für etwas Verwirrung hat im Vorfeld die spanische Nationalmannschaft gesorgt. Sergio Busquets wurde positiv auf Corona getestet, mit der Folge, dass einige Spieler nachnominiert wurden. "Wir sehen, dass die Pandemie noch Spuren hinterlässt", sagt Alberto Mendez. "Trotzdem glaube ich, dass Zuschauer wieder in die Stadien kommen sollen, wenn sie die Regeln beachten und nicht leichtsinnig werden. " Ob man in elf Ländern spielen müsse, "ist meiner Ansicht nach Geschmackssache".

Die deutsche Mannschaft werde zu beachten sein, "weil Joachim Löw seine Karriere mit einem positiven Eindruck beenden will", meint Mendez. "Normalerweise ist Deutschland eine Turniermannschaft, ich bin gespannt", sagt der Trainer. Dass sein Land hoch gehandelt wird, ist ihm natürlich bekannt. Der dreifache Cupgewinner Spanien ist das einzige Land, das 2016 seinen Titel verteidigen konnte. Trainer Luis Enrique schwärmt von seiner Truppe und behauptete, dass er eigentlich 60 Spieler in den Kader berufen könne. "Das stimmt, denn die Qualität ist hervorragend", meint Mendez. "Er handelt konsequent und hat eine feste Meinung. " Die Gruppe, zu der Polen Schweden und die Slowakei gehören, "dürfte kein Problem darstellen, auch wenn der Abwehrrecke Sergio Ramos fehlt". Die Torhüterposition sei leicht umstritten, weil David deGea zuletzt leicht geschwächelt habe, Kepa Arrizabalaga wäre ein guter Ersatz. Und wer wird Europameister? "Für mich ist England Favorit. "

HK