Ingolstadt
Mehr Fragen als Antworten

Marco Štorman inszeniert Lessings "Nathan der Weise" im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt

13.12.2015 | Stand 02.12.2020, 20:26 Uhr

Nathan im Heute: Szene mit Olaf Danner als Titelfigur (Mitte) und Ensemble - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Am Ende gibt es zwei Bravos und ein Buh, eher verhaltenen, aber andauernden Applaus. Man hört Begeisterung, aber auch so etwas wie „zu schwer für einen Freitagabend“. Das ist die Gemengelage nach der Premiere von „Nathan der Weise“ im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt. Man ist berührt – und doch irgendwie unbefriedigt, irritiert, ratlos. Denn einerseits wagt Regisseur Marco Štorman einen klugen, radikalen und überzeugenden Zugriff, indem er Lessings fast 250 Jahre altes Stück über Humanität und Toleranz mit heutigen Fragen konfrontiert. Uns damit zum Nachdenken über unsere eigene Haltung zur aktuellen Situation, zu Solidarität, Freiheit, Angst, Fremdsein bringt. Andererseits mischt er dazu verstörend komische Elemente, die die ernsthafte Auseinandersetzung bisweilen der Lächerlichkeit preisgeben. Wozu Schauspielerakrobatik mit Konfettiregen im Zuschauerraum? Wozu die Videoeinspielung von Manfred Noas „Nathan“-Stummfilm aus den 20er Jahren? Wozu überhaupt der manchmal beliebige Einsatz der Handkamera? Und welche Rolle hat er Moritz Löwe zugedacht, der mit falschem Bart oder unter einer Burka durch die Inszenierung irrlichtert?

Am Anfang schreibt Löwe in einer Clownsnummer mit weißer Farbe und in Großbuchstaben „Tretet ein, denn auch hier sind Götter“ auf den eisernen Vorhang. Dieses Zitat von Heraklit hat Lessing seinem Stück von 1779 vorangestellt. Später ist Löwe Beobachter, Handlanger, entwirrt als Klosterbruder die wahren familiären Verhältnisse und schlichtet zum Schluss den Scheiterhaufen für Nathan. Wer heute die Worte des Patriarchen „Der Jud soll brennen!“ liest, denkt den Holocaust immer mit. Wer ist diese Figur? Ein Schatten Nathans? Oder vielleicht Stellvertreter des Publikums, Pars pro toto unserer aufgeklärten Gesellschaft? Štormans Inszenierung stellt auf jeden Fall mehr Fragen, als sie Antworten gibt.

Auf vielen Bühnen wird derzeit „Nathan“ gespielt, Lessings Utopie gegen den allgegenwärtigen Terror – Syrien, Paris, brennende Flüchtlingsheime vor unserer Haustür. Schließlich wird in der berühmten Ringparabel die Vision eines friedlichen Zusammenlebens der monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam formuliert. Und obwohl Štorman in Lessings Sprache mit sehr heutigen Figuren erzählt, macht er nicht den Fehler, dem Stück vordergründige Weltpolitik in einer Art Zwangsaktualisierung überzustülpen.

„Während der ersten Probewoche“, schreibt Dramaturg Donald Berkenhoff im Programmheft, „geschahen die islamistischen Morde in Paris.“ Und es stellte sich die Frage: „Wie können wir jetzt noch die Versöhnung erzählen“ Štormans Konsequenz: Er drehte das Stück um. Machte die Ringparabel, das Märchen von der heilen Welt, zum Ausgangspunkt seiner Inszenierung – und zeigt dann in stark verdichteten Tag- und Nachtsträngen, wie sich Stück für Stück alles in Auflösung befindet. Alles Private ist politisch. Die Verliebtheit des Tempelritters schlägt um in Hass. Man spinnt Intrigen. Rüstet sich für den Heiligen Krieg. Fühlt sich um seine Identität betrogen. Es geht um Geld und den eigenen Vorteil, um Macht und Moral, um Ideologie und Radikalisierung, um Ab- und Ausgrenzung. Die beschwingte Happy-go-lucky-Stimmung des Anfangs endet in Resignation. Immerhin gönnt uns Štorman einen kleinen Hoffnungsschimmer: Nathan gibt den Ring an die nächste Generation weiter – an Recha, die junge Frau, die keinerlei Ideologie unterworfen ist. So weit, so klar.

Wird die Ringparabel zu Beginn noch vor dem eisernen Vorhang von einer unbeschwerten Partygesellschaft erzählt, mehrstimmig und teils im Chor (das Saallicht bleibt lange an), spielen die Tag- und Nachtteile unter oder vor einer riesigen hölzernen Kuppelkonstruktion (Bühne: Jil Bertermann), die für den Felsendom stehen könnte, den ältesten monumentalen Sakralbau des Islam in Jerusalem. So wie alle Religionen symbolhaft stets sichtbar sind, so sind auch alle Schauspieler immer präsent – und sei es auf der Leinwand. Sie alle sind Beobachter. Und wenn Daja (Ingrid Cannonier) dem Tempelherrn (Béla Milan Uhrlau) das Geheimnis von Rechas Herkunft enthüllt, läuft deren Darstellerin Mira Fajfer zur Souffleuse und schaut ungläubig ins Textbuch.

Das alles ist intensiv durchdacht und mit Witz, Raffinesse und großem Kunstsinn gemacht. Von Anika Marquardts Kostümen bis zu Thomas Sehers cineastischem Soundtrack. Vor allem die Schauspieler sind hoch konzentriert, sprechen Lessings Blankverse unverkrampft heutig und vermögen alle in ihren Rollen zu überzeugen: von Olaf Danners gelassenem Nathan in schlichten schwarzen Jeans, dessen Darun-Monolog (von der Auslöschung seiner gesamten Familie) wahrhaft berührt, bis zu Béla Milan Uhrlaus Tempelherrn, der vom verliebten Springinsfeld zum militanten Extremisten mutiert. Und doch.

Und doch kommt man nach knapp zwei Stunden zu einem Ja-aber-Urteil. Unzweifelhaft ist „Nathan“ das Stück der Stunde. Und Marco Štormans kühne Befragung spannend. Er zwingt uns zum Hinhören und Nachdenken. Aber er zwingt uns auch Regiemätzchen auf. Gleichwohl macht die Begegnung mit Lessings aufgeklärter Gedankenwelt eines erschreckend deutlich: Wir waren schon mal weiter.

 

Weitere Termine: 17. und 29. Dezember, 14., 15., 22. und 24. Januar. Einführung jeweils eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung. Kartentelefon (0841) 30547200.