Vohburg
"Manche Kinder benötigen mehr Zeit"

Schulrat Sepp Steinberger über den Übertritt nach der 4. Klasse und den Druck auf Eltern, Schüler und Grundschullehrer

17.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:17 Uhr

"Man braucht nicht unbedingt Abitur, um glücklich zu werden": Schulrat Sepp Steinberger hält den Übertritt für überbewertet. Seiner Ansicht nach führen viele Wege zu einem erfolgreichen Leben. - Foto: Konze

Vohburg (DK) Der Schulrat des Landkreises Pfaffenhofen, Sepp Steinberger, rät zu mehr Gelassenheit. Für Väter und Mütter, die Kinder in der vierten Klasse haben, ist das derzeit schwierig. Gymnasien und Realschulen buhlen um die Schüler. Der Druck auf Eltern, Schüler und auch die Grundschullehrer wächst - der Übertritt steht an. Wie sich die Rückkehr zum G 9 auf die Übertrittsquote auswirken könnte und dass man das Wichtigste ohnehin beim Fußballspielen lernt, erzählt der Vohburger im Gespräch mit unserer Zeitung.

Herr Steinberger, wird sich die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium auf die Übertrittsquote auswirken?

Steinberger: Davon gehe ich aus. Manche Eltern haben bisher ihre Kinder lieber auf die Realschule geschickt, weil sie sagen: "Auf dem G 8 ist der Druck zu groß."

 

Wie sieht es denn konkret im Landkreis Pfaffenhofen aus?

Steinberger: Jeweils ein Drittel der Schüler geht in die Mittelschule, in die Realschule und ins Gymnasium. Bayernweit liegt die Quote fürs Gymnasium mit rund 40 Prozent etwas höher. Auf dem Land ist sie etwas niedriger, in den Städten höher. Dabei könnten im Landkreis noch mehr Kinder aufs Gymnasium gehen.

 

Was heißt das?

Steinberger: Betrachtet man alleine die Noten, könnten 47 Prozent der Landkreisschüler auf das Gymnasium gehen. Aber in der Realität gehen sie dann eben doch nicht. Sondern auf die Realschule.

 

Weil die Eltern . . .

Steinberger: . . . zu ihren Kindern sagen: "Geht lieber auf die Realschule".

 

Das führen Sie auf das G 8 zurück.

Steinberger: Ja, da könnte sich in Zukunft etwas ändern. Aber exakte Vorhersagen sind ohnehin nicht möglich.

 

Begrüßen Sie also die Rückkehr zum G 9?

Steinberger: Nicht umsonst hat die bayerische Staatsregierung reagiert. Das G 8 wird zwar als Erfolg gefeiert, und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass die bayerischen Schüler in allen Leistungserhebungen vorne dabei sind. Aber dennoch war der Druck von den Eltern und auch der Lehrerverbände sehr hoch.

 

Der Druck beginnt schon früher, in der vierten Klasse mit dem Übertritt.

Steinberger: Es ist nicht mehr so wie früher, als von 45 Kindern in einer Klasse drei auf das Gymnasium gegangen sind. Alle Kinder mussten eine Aufnahmeprüfung machen, unabhängig von den Noten. Das hätte schon was.

 

Sie könnten sich solch eine Vorgehensweise auch heute noch vorstellen?

Steinberger: Ja, dann hätten wir in der 4. Klasse deutlich weniger Prüfungsdruck. Dort sind 20 Leistungskontrollen vorgeschrieben. Aber wenn ich Schüler prüfe, ist das immer verlorene Lernzeit. Ohne den Prüfungsdruck könnte mehr Zeit auf das Lernen verwendet werden. Dann müssten alle Schüler eine Woche oder drei Tage zum Probeunterricht. Und das Gymnasium entscheidet.

 

Nicht mehr die Grundschule.

Steinberger: Das würde den Druck von den Grundschullehrern nehmen.


Und die Eltern?

Steinberger: Da erlebt man im Laufe der Jahre schon seltsame Dinge. Teilweise sind es Dramen, die sich im Übertrittsjahr abspielen. Zum Beispiel, dass ein Vater zu einer jungen Grundschullehrerin sagt: "Sie wissen ja, dass mein Sohn übertreten wird - dann wissen Sie ja, was zu tun ist". Viele Eltern erwarten einfach, dass ihre Kinder auf das Gymnasium gehen, zumindest aber auf die Realschule. Man muss fairerweise sagen, dass wir im Landkreis Pfaffenhofen noch eine gesunde Mischung haben. Hier wird eine gute Arbeit geleistet. Die Bedenken den Mittelschulen gegenüber sind hier nicht so weitverbreitet. Aber die meisten Eltern wünschen sich schon, dass ihre Kinder auf das Gymnasium gehen.

 

Die Eltern mischen sich immer mehr ein.

Steinberger: Das treibt zum Teil schlimme Blüten. Da geht es ums Gefeilsche bei den Noten, bei den Proben um einzelne Punkte. Da entsteht schon ein Druck - auf alle. Die Eltern fühlen sich unter Druck, die Kinder sind die Leidtragenden. Das kann schlimm enden. Wenn ich immer unter Druck stehe und das nicht schaffe, was von mir erwartet wird, kann das mein Selbstbild empfindlich stören. Und die Lehrer in der 4. Klasse fühlen sich auch unter Druck gesetzt. Sie fühlen sich missverstanden als Zubringer, als Autobahn, zum Gymnasium.

 

Angesichts der vielen Möglichkeiten heute, etwa mit Berufs- und Fachoberschule: Wird der Übertritt überbewertet?

Steinberger: Aus meiner Sicht: Ja. Die Jugendlichen können eine Ausbildung machen, dann ihren Meister oder Techniker und dann später immer noch studieren. Die Möglichkeiten sind heute vielfältig. Und es gibt übrigens immer mehr Akademiker, die nicht den klassischen Weg über das Gymnasium gewählt haben.

 

Weniger Druck, dafür mehr Zeit.

Steinberger: Wir haben Kinder, die brauchen mehr Zeit. Sie brauchen Unterstützung und Fürsorge. Man erlebt Sachen. In der 5. Klasse an der Mittelschule etwa, wenn ein Schüler über sich sagt: "Ich bin gescheitert, ich bin ja dumm". Wenn das ein Kind mit zehn oder elf Jahren sagt - und das ist nicht erfunden, das erleben wir immer wieder. Dann bringt einen das schon zum Nachdenken. Die Kinder können ja nichts dafür.

 

Welche Gründe gibt es dafür?

Steinberger: Wir haben Kinder in den Mittelschulen, die sind benachteiligt. Aufgrund ihrer Sozialisation oder weil sie einen Migrationshintergrund haben und nicht so gut Deutsch sprechen oder Schwächen in Mathe oder Deutsch haben. Es sind in jedem Fall Kinder, die nicht so ausgestattet sind, wie sie in unserem System ausgestattet sein müssten.

 

Wird diesen Schülern heute mehr geholfen als früher?

Steinberger: Denke ich schon. Da ist viel passiert. Wir haben in Bayern - das gibt es sonst nirgends - Förderlehrer. Die unterstützen die Grund- und Mittelschullehrer. Die Kinder werden gezielt gefördert.

 

Zurück zum Übertritt. Wie sehen Sie die Rolle der Eltern?

Steinberger: Die ist ganz entscheidend. Das Wichtigste ist, dass sich alle Beteiligten mit der Entscheidung wohlfühlen. Die Eltern sollten sich die Frage stellen: Kann mein Kind das leisten, was ich mir wünsche? Viele sagen: "Mein Kind soll es einmal besser haben als ich." Aber es muss eben passen. Jeder meint es gut. Aber nicht immer ist das Gymnasium das Beste für das Kind.

 

Welche Tipps können Sie denn den Eltern geben?

Steinberger: Das ist schwierig. Mädchen sind generell erfolgreicher. Sie haben sowohl bei den Abiturienten als auch bei den Studierenden die Buben abgehängt. Mädchen bringen sehr viel mit. Sie schreiben schöner.

 

Wie bitte? Mädchen sind doch nicht erfolgreicher, nur weil sie schöner schreiben.

Steinberger: Sie arbeiten übersichtlicher, sauberer. Können dadurch leichter lernen. Die Erfahrung zeigt, dass Mädchen für unser Schulsystem, das viel auf auswendig lernen ausgelegt ist, geeigneter sind als Buben.

 

Okay, aber was können Eltern konkret tun?

Steinberger: Meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass ich die Hausaufgaben mache. Sie hat mich - gerade am Anfang - auch in Englisch und Latein abgefragt. Das war für mich schon ganz wichtig. Ich bin direkt neben dem Fußballplatz aufgewachsen und hätte sonst wohl den ganzen Tag dort verbracht. Das Wichtigste ist, dass die Kinder spüren, dass sie auch bei einem Misserfolg als Person nicht abgewertet werden.


Das heißt, die Eltern sollten schon dahinter sein. Ist das nicht eine Gratwanderung? Einerseits darauf achten, dass die Kinder etwas lernen, andererseits aber nicht zu viel Druck aufzubauen.

Steinberger: So könnte man das sagen. Gerade der Sprung von der Grundschule auf Gymnasium oder Realschule ist eine Riesenumstellung. Da sollten die Eltern ihre Kinder begleiten. Bei vielen kommt der Ehrgeiz erst später.

 

Wie beurteilen Sie Nachhilfe?

Steinberger: Wenn ich sehe, dass sich mein Kind schwertut, dass es Nachhilfe braucht, dann muss ich aufpassen. Es kann sein, dass Nachhilfe für ein oder zwei Jahre ganz gut ist. Viele Eltern scheuen da keine Kosten und Mühe. Nachhilfe ist heute ein Millionengeschäft. Die Frage ist allerdings, ob ein Kind für das Gymnasium oder die Realschule geeignet ist, wenn es über einen längeren Zeitraum in mehreren Fächern Nachhilfe benötigt. Vielleicht wäre dann eine Ausbildung die bessere Wahl.

 

Sind manche Eltern mit dieser Rolle überfordert?

Steinberger: Der Eindruck drängt sich auf. Die Anforderungen sind groß. Viele Eltern können den Kindern in der Schule nicht mehr helfen, gerade in Fächern wie Mathe, Latein oder Französisch. Von den Kindern wird extrem viel verlangt. In meiner Schulzeit waren Tage dabei, da habe ich mir gedacht: Schlimmer kann es im Beruf auch nicht werden. Es war nicht immer so, aber das darf man nicht unterschätzen.

 

Ist die Anforderung heute immer noch so hoch wie damals?

Steinberger: Ich denke schon. Die G 8-Schüler haben mindestens drei Nachmittage, wenn nicht gar vier. Je nach Busverbindung kommen sie um 17 Uhr oder 17.30 Uhr nach Hause. Und dann sitzen sie noch, vor allem wenn Schulaufgaben angekündigt sind.

 

Aber es heißt doch immer, dass die Anforderungen gesunken sind.

Steinberger: Das sagen viele. Als Außenstehender kann ich das nicht beurteilen. Mir fällt nur auf, dass jedes Jahr etwa 25 Prozent der Schüler das Abitur mit einer Eins vor dem Komma absolvieren. Das sind schon auffällig viele.

 

Wenn das Niveau gesunken sein sollte - warum hat man dann den Eindruck, dass der Druck höher geworden ist?

Steinberger: Das könnte zwei Gründe haben: Der Druck von außen aus dem Umfeld ist gewachsen. Man gilt ja als sozial nicht gesellschaftsfähig, wenn das Kind nicht mindestens auf der Realschule war. Und zweitens ist der Leistungsdruck ja dennoch vorhanden, er ist ja nicht geringer geworden.

 

Nicht nur auf Gymnasium und Realschule, sondern auch in der vierten Klasse vor dem Übertritt.

Steinberger: Wenn man sich mal anschaut, was heute in den vierten Klassen los ist; da leiden viele Kinder darunter. Da haben Eltern eine hohe Verantwortung.

 

Es ist ja auch eine wichtige Entscheidung.

Steinberger: Aber es ist nicht die Schule alleine, die glückselig macht. Das Wichtigste, das ich im Leben gelernt habe, habe ich vom Fußballspielen. Da lernt man, in einem Team zu sein, in einer Mannschaft; sich unterzuordnen. Dass auch, wenn man selbst mal gut war, es nichts hilft, wenn die Mannschaft verliert. Man lernt, mit Niederlagen umzugehen. Es ist einfach wichtig, neben der Schule auch noch was anderes zu haben. Man muss heute nicht unbedingt Abitur haben, um glücklich zu sein.

 

Nur mit Akademikern kommt man nicht weit.

Steinberger: Es kann nicht das Ziel einer Gesellschaft sein, dass alle Schüler Abitur machen. Es gibt so viele Menschen mit anderen Abschlüssen, die genauso glücklich und zufrieden sind. Ich habe viele Freunde mit einem Hauptschulabschluss, und da bin ich manchmal neidisch, was die handwerklich draufhaben. Das kann ich nicht. Diese Menschen sind sehr erfolgreich in dem, was sie tun. Das finde ich bemerkenswert.

 

Das Gespräch führte

Markus Meßner.