Die
Mal still, mal laut

11.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:34 Uhr

Die Familie Zoi aus Ingolstadt lebt in zwei Welten: Die Eltern sind gehörlos, die beiden Töchter hörend. Die Mädchen sind Grenzgängerinnen und wachsen bilingual auf: Untereinander, in der Schule oder mit Freunden sprechen sie, daheim wird fast immer die Gebärdensprache benutzt. Das Leben in beiden Welten kann schön sein, aber manchmal auch schwierig. Die achtjährige Larissa hat manchmal beispielsweise keine Lust, zu gebärden. "Zum Beispiel, wenn meine Hände müde sind."

Das Mädchen liegt in seinem Zimmer im ersten Stock der Wohnung gemütlich auf dem Bett und blättert in seinem Lieblingsbuch: die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm. Daraus liest es seiner kleinen Schwester gerne vor. "Aber sie schläft immer so schnell ein. Ich lese trotzdem weiter." Von unten, aus der Wohnküche, dringt plötzlich ein Stampfen herauf, das immer heftiger wird. Ohne von ihrem Buch aufzublicken, erklärt Larissa: "Das ist Mama. Sie will, dass Papa sie anschaut."

Wenn in der Familie Zoi jemand mit den Füßen stampft, ist das kein Zeichen von Wut oder Trotz. Es bedeutet vielmehr: "Schau mal her!" Denn die Gebärdensprache funktioniert natürlich nur, wenn man sich dabei ansieht. Wenn Yvonne Zoi ihrem Mann Wilhelm oder ihren Töchtern etwas mitteilen möchte und derjenige ist gerade nicht in der Nähe, sodass sie ihn antippen könnte, wird getrampelt. Notfalls auch mehrmals.

Es passiert häufig, dass gehörlose Eltern hörende Kinder bekommen. Für diese Kinder gibt es den englischen Begriff Coda: children of deaf adults. Sie erleben eine besondere Kindheit und machen andere Erfahrungen als ihre Altersgenossen mit hörenden Eltern. Manchmal etwa schämen sie sich, mit ihren Eltern in der Öffentlichkeit zu gebärden. Oder sie sind es leid, immer für die Eltern übersetzen zu müssen.

Davon handelt auch der bekannte Film "Jenseits der Stille" aus dem Jahr 1996: Da trickst die kleine Lara ihre gehörlosen Eltern manchmal sogar aus, wenn sie mal wieder für sie dolmetschen muss. Heutzutage passiert das allerdings kaum noch, denn gehörlose Menschen wie die Zois nehmen bei Behördengängen oder Arztbesuchen die Dienste von Gebärdendolmetschern wie Ronja Kunze in Anspruch. Die hat auch bei unserem Zeitungsinterview übersetzt. "Wir versuchen möglichst, selber zu kommunizieren", erklärt Yvonne Zoi. "Wenn Larissa mal für uns übersetzt, ist uns wichtig, dass sie es freiwillig macht." Die Achtjährige verrät einen Trick, wie sie solche Situationen im Alltag umschifft. "Wenn wir mit meinen Eltern einkaufen gehen, dann tun Tamara und ich einfach so, als ob wir alle nicht hören können."

Wie in den meisten Familien finden die wichtigen Gespräche der Zois beim gemeinsamen Essen statt. "Unser Tisch ist DGS-Zone", erklärt die Mutter. Die Abkürzung steht für Deutsche Gebärdensprache. Natürlich fallen die beiden Schwestern öfter in die Lautsprache, weil ihnen das Gebärden mit den Händen manchmal lästig ist - aber an diesem Punkt ist die Mutter unerbittlich. Dann klopft sie auf den Tisch und schaut streng.

Das Mienenspiel der Eltern sendet ganz deutliche Signale aus. Insbesondere dann, wenn es mal Ärger gibt: Wo andere Eltern gerne mal laut werden und schimpfen, bleibt es zwar still bei den Zois. "Aber dann wird meine Mimik ernster und die Gebärden dramatischer", sagt die Mutter. "Je sauerer ich werde, umso schneller werden meine Gebärden." Dann fuchteln ihre Hände umher, als wollten sie die Luft in lauter kleine Stücke hacken. Gegenüber ihren Kindern bemühen sich die Eltern, "sauber", also deutlich zu gebärden - damit die Mädchen diese Sprache gut lernen und verstehen. "Larissa hat erst mit drei Jahren angefangen, Worte zu gebärden, ihre jüngere Schwester Tamara schon viel früher, mit eineinhalb", erinnert sich Yvonne Zoi. "Die Kleine hat eine andere Wahrnehmung und viel schneller begriffen, dass ihre Eltern gehörlos sind."

Um das Verstehen und das Verständnis zu verbessern, besuchen die Mutter und ihre Töchter regelmäßig die Coda-Kurse im Zentrum des Gehörlosenvereins GVIUS in Ingolstadt. "Für Larissa und ihre Schwester ist es wichtig, Kinder kennenzulernen, die auch in ihrer Welt leben. Denn Codas haben viele Gemeinsamkeiten", meint Yvonne Zoi. "Der Austausch ist gut für ihre Identitätsfindung." Ebenso bedeutet es Yvonne Zoi sehr viel, andere Mütter zu treffen und mit ihnen über Erziehung, Schule oder Förderung der Kinder zu sprechen. "Grundsätzlich haben es Codas nicht schwerer in der Schule", meint die Mutter. "Larissas Lehrer wissen Bescheid, dass sie stark visuell geprägt ist." Vater Wilhelm besucht die Kurse nicht: "Ich muss viel arbeiten und kümmere mich nicht so um die Erziehung. Aber ich spreche ein Machtwort, wenn die Mädchen ihre Mutter ignorieren."

Yvonne Zoi hat einen Wunsch: "Ich möchte, dass Larissa mehr in der hörenden Welt unterwegs ist. Andere Kinder fragen oft, ob sie uns mal besuchen können. Aber die Eltern trauen sich nicht, mit mir in Kontakt zu treten. Ich habe das Gefühl, da herrscht eine komische Scheu. Immer bin ich diejenige, die auf andere zugeht."

Larissa geht gern zu den Coda-Kursen, nicht nur, weil sie dort ihre Freundin Lilly trifft. "Wir spielen und entspannen richtig schön. Und es gibt Steine für Gefühle. Damit können wir sagen, wie es uns geht." Am Kleiderschrank im Mädchenzimmer hängt ein Plakat, das Larissa in dem Kurs gemalt hat. Es zeigt sie mit einem lachenden Gesicht beim Tanzen. Ganz oben auf der Seite steht ihr Mut-Spruch: "Ich kann das, ich kann das!"

Im ganzen Haus ist es still. Diese tiefe Stille umfängt das kleine mutige Mädchen wie ein Kokon. Dann stampft unten wieder jemand. Larissa hört gar nicht hin. Sie ist versunken in ihrer Welt.