Sandizell
Lücki und seine Damen im Paradies

Bei Sandizell führen Auerochsen ein Leben, von dem die meisten Nutztiere nur träumen können

29.10.2018 | Stand 23.09.2023, 4:49 Uhr
Günther Gräfe lockt mit dem gelben Futtereimer und zuerst nähert sich die Leitkuh und prüft, was es da so gibt. −Foto: Budke

Sandizell (SZ) Vor allem im Winter können Autofahrer auf ihrem Weg von Klingsmoos nach Sandizell einen guten Blick auf die dunklen Gesellen werfen, die hinter dem Zaun gemütlich an ihrem Heu knabbern. Das ist die einzige Jahreszeit, in der die Auerochsen von ihrem Besitzer Günther Gräfe Zusatzfutter bekommen.

Ob sie das tatsächlich unbedingt brauchen würden, da ist sich Gräfe nicht so sicher, aber es macht den Tieren das Leben ein bisschen leichter. Recht zottelig sehen sie bei Minus-Temperaturen aus, der schwarze Zuchtstier namens Lücki, die Kühe, Färsen und Jungstiere. Während die Tiere im Winter alle sehr dunkel daher kommen, ist ihr Fell im Spätsommer nicht nur viel kürzer und glatter, sondern sie präsentieren in ganz individueller Ausprägung die gewünschte Färbung: Vom Kopf über die Schulter zum Bauch sind die Auerochsen schwarz, das längere Fell zwischen den Hörnern ist oftmals braun, vor allem bei den jungen Tieren, denn die Kälbchen kommen ohnehin komplett braun auf die Welt. Auf dem Rücken verläuft ein Aalstrich, ab Widerrist breitet sich auf dem Rücken bis zur Kruppe rötlich-braunes Fell aus. Bei mancher Kuh leuchtet es kräftig kupferfarben in der Sonne und glänzt wie frisch gebürstet. Aber tatsächlich nur "wie", denn die Tiere kommen kaum mit menschlichen Händen in Kontakt.

Günther Gräfe und seine Frau Gerlinde besuchen ihre Auerochsen täglich; als Besitzer sind sie dafür verantwortlich, dass die Zäune in Ordnung sind und sich kein Tier auf unerlaubten Pfaden bewegt. Außerdem überprüfen sie natürlich, ob es der Herde gut geht, aber da brauchen sie sich kaum Sorgen zu machen: "Der Tierarzt ist hier ein selten gesehener Gast", sagt Gräfe. Der ehemalige Biologie- und Sportlehrer, der 32 Jahre an der Franz-von-Lenbach-Schule unterrichtet hat, verwirklicht im Pfaffenfeld seit seiner Pensionierung im Jahr 2007 fast eine Idealvorstellung von Tierhaltung - und kann sich das als Rentner leisten: "Wenn man das als Vollerwerb betreiben wollte, würde es so nicht ausreichen," weiß Gräfe. Der Erlös, den er aus dem Verkauf der Tiere in andere Zuchtprojekte oder aus den wenigen Schlachtungen im Jahr erwirtschaftet, wäre einfach zu gering.

Am liebsten würde er ohnehin alle Tiere behalten, aber das geht nicht, denn die Fläche ist begrenzt und es darf nur eine bestimmte Anzahl an Ochsen auf dem 20 Hektar großen Gelände leben. Da nicht alle Tiere für die Zucht geeignet sind, werden zweimal im Jahr insgesamt zwei bis vier Tiere geschlachtet. Froh ist Gräfe, dass dies möglichst stressfrei vor Ort auf dem bekannten Gelände passieren kann, dafür hat er sich intensiv eingesetzt. Er wollte den Tieren unbedingt den Transport und das Warten am Schlachthof in einer kleinen Box ersparen - verständlich, denn die Tiere kennen es ja gar nicht, irgendwo eingesperrt zu sein. Sie bewegen sich 365 Tage im Jahr in der freien Natur. Einen Unterstand gibt es zwar, aber der wurde kaum genutzt und dient nun im Winter als Heulager.

Gräfe mag seine Herde, das sieht man ihm an und die flauschigen Gesellen kennen ihn gut. Um Besuchern die Tiere aus der Nähe zeigen zu können, lockt Gräfe die Auerochsen mit ein bisschen Futter in einem gelben Eimer an. Vor allem die älteren Kühe kommen begeistert angaloppiert, die jungen Färsen sind etwas zurückhaltender und die Kälber aus dem Frühjahr bleiben sicherheitshalber ganz im Hintergrund. Abstand muss gewahrt werden - mit einem Auge beobachten alle Tiere selbst beim Fressen ihre Umgebung genau und sorgen schnell wieder für Distanz, wenn Fremde sich nähern. Gräfe und seine Frau können ihnen dagegen ganz nah kommen, selbst Stier Lücki ist trotz seines sehr imposanten Erscheinungsbildes "ein ganz Braver", wie Gräfe betont.

Der spanische Einfluss bei den nachgezüchteten Auerochsen ist deutlich zu erkennen. Korrekterweise wird der Name Auerochse laut einer Vereinbarung des Zuchtverbandes in Anführungszeichen gesetzt, denn der letzte echte Auerochse wurde 1627 getötet. Heute versucht man, diese Vorfahren aller Hausrinder nachzuzüchten und ist auf einem guten Weg. Farbe und Statur passen soweit, die Form der Hörner aber soll noch verbessert werden: Der Lyra-ähnliche Schwung an den Enden soll stärker ausgeprägt sein. Außerdem müssten die Tiere eigentlich größer und etwas schwerer sein, aber Gräfe meint: "Für den Moosboden hier sind sie eigentlich ideal, so wie sie jetzt sind." Ungefähr 500 Kilogramm wiegt eine Kuh, 900 Kilo ein Stier, das passt. So können die Tiere ihre Aufgabe bestens bewerkstelligen, denn auch wenn sie in einem beinahe paradiesischen Umfeld leben, haben sie doch eine wichtige Arbeit zu verrichten: die Landschaftspflege. Der kommen sie mit Hingabe nach, denn die Auerochsen fressen quasi alles, was wächst. Kein Gras ist vor ihnen sicher, Kräuter, stachelige Pflanzenteile oder auch holziges wie die Rinde von jungen Bäumen.

Mittels dünner Stromlitzen bestimmt Gräfe, in welchem Teil der Fläche die Tiere aufräumen sollen und dürfen. Wo zum Beispiel zu viel Jungholz wächst, entrinden die Auerochsen es gern und sorgen für Auslichtung. So wird die Landschaft gepflegt, Lebensraum für allerlei Vögel und Insekten erhalten wie auch für unterschiedlichste Pflanzen. Gleichzeitig dient das Gelände als Regenrückhaltebecken und erfüllt diese Funktion vorbildlich. Ein Stück Wald grenzt an die Auerochsen-Weide, den würde Gräfe den Tieren gern zugänglich machen. Ein paar Quadratmeter durfte er schon abtrennen und es ist überraschend, wie sich der Wald verändert: Aus einem Gelände mit beinahe undurchdringlichem Unterholz wird eine "fast parkähnliche Landschaft", lobt Günther Gräfe die Arbeit, die die Tiere durch die Beweidung geleistet haben.

Gräfe ist begeistert und anscheinend besitzt er die Fähigkeit, Begeisterung für die Natur weiterzugeben: Zwei seiner ehemaligen Schüler, die in Sandizell Landwirtschaft betreiben, haben sich von der Idee der artgerechten Haltung und extensiven Bewirtschaftung anstecken lassen. So grasen in unmittelbarer Nachbarschaft Limousin-Rinder den ganzen Sommer über draußen auf der Weide und ein paar Wiesen weiter sind Galloways zur ganzjährigen Beweidung eingezogen. Da lohnt es sich schon, das Auto zu parken für einen kleinen Fußmarsch auf dem gut befestigten Weg zwischen den Wiesen, um Lücki und seine Damen ein wenig in ihrem kleinen Paradies zu beobachten.

Heidrun Budke