Kritik
Löw ist ein Weltmann des Fußballs geworden

20.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:39 Uhr

Kritik an den Kritikern? Das muss nicht sein, denn weder Michael Ballack noch Mehmet Scholl sind übers Ziel hinausgeschossen. Und wir sind in einer Europameisterschaft, zwei von sieben Spielen sind gespielt - da darf man dann doch schon mal ein paar unangenehme Fragen stellen. Wenn das dann Leute tun, die selbst mal auf hohem Niveau gespielt haben - umso besser. Das darf dann ruhig mal bissig oder provokant sein, solange es einen konstruktiven Ansatz gibt, ist es eine Bereicherung. Ruhig mehr davon! Es geht um Fußball, nicht um die Rettung der Welt.

Da kann man doch wunderbar streiten über Torflaute, Gomez-oder-Götze, Führungskräftemangel und Müllers Formkrise. Bemerkenswert, wie Joachim Löw damit umgeht - nicht nur gelassen, sondern auf höchst angenehme Weise lässig. Der Mann hat alles Schwarzwälderische hinter sich gelassen, er ist ein Weltmann des Fußballs geworden. Er trifft nur Entscheidungen, von denen er überzeugt ist. Was von außen kommt, lässt er an sich abperlen, ohne nass zu werden. Ich glaube im Übrigen nicht, dass Löw Gomez für Götze bringt. Das wäre eine viel zu simple Umbesetzung einer Stelle. Gomez in der Startelf würde bedeuten, den Aggregatzustand der Offensive ändern zu müssen. Das wird Löw nicht tun, er wird vom deutschen Tiki-Taka nicht abweichen. Deshalb bleibt Gomez ein Stürmer für die letzten 20 Minuten, wenn die gute alte Brechstange ausgepackt werden muss. Die Spanier - das nur nebenbei bemerkt - machen das anders. Sie sind einen Schritt weiter, weil sie einen Schritt zurückgegangen sind: Mit Morata haben sie wieder einen klassischen Mittelstürmer, und Tiki-Taka ist nur noch eines von mehreren Mitteln. Einen anderen Schritt zurück empfinde ich als einen echten Rückschritt: Die Dreierkette ist nach meinen Eindrücken fast nie ein modernes Abwehrsystem, sondern nichts weiter als eine Fünferkette - und somit ein Wiedergänger des Catenaccio. Nicht schön. Aber vielleicht erfolgreich.

Gibt's schon den Superstar der EM? Ich habe zumindest einen gesehen, der das Zeug dazu hat: Dimitri Payet. Was der Junge an Dynamik und Technik drauf hat und wie er beides verbindet, ist grandios. Er ist genau zum richtigen Zeitpunkt in Topform - was man von vielen anderen Stars nicht sagen kann. Was aber - wie bereits mehrfach gesagt - nach einer Saison mit derartiger Höchstbelastung für die Topspieler nicht überraschen kann.

Ein Phänomen ist mir bisher zu wenig gewürdigt worden - vielleicht, weil es nicht das verbreitete Bedürfnis nach Konflikt, Krach und Kontroverse befriedigt. Sondern das Gegenteil. Die Spiele dieser EM sind auf eine höchst professionelle Weise fair; ich habe keine Ausschläge auf der nach oben offenen Hektik-Skala wahrgenommen. Keine Tätlichkeiten, keine Rudelbildungen, fast keine Flugschau im Strafraum, fast keine heftigen, brutalen Fouls. Die bis gestern einzigen Platzverweise waren zwei harmlose Gelb-Rote Karten. Dabei gab es ja durchaus Partien mit Brisanz und Stresspotenzial, doch die Mannschaften gehen korrekt miteinander um. Bei den Topspielern kennt man das aus der Champions League, wo die individuelle Klasse so ausgeprägt ist, dass das Foul im Repertoire fast überflüssig geworden ist. Bei der EM setzen auch die sogenannten Kleinen eher auf eine akribisch auf den Gegner zugeschnittene Taktik, in der die Raubeine von einst - und die trugen oft auch deutsche Namen - kaum noch gebraucht werden.

Aber der Hauptgrund für den sauberen Fußball, der uns ordentlichen Spielfluss beschert, sind die starken Schiedsrichterleistungen. Die EM-Unparteiischen können ein Spiel lesen und pflegen einen souveränen Umgang mit den Profis. Die wiederum merken, dass sie es mit Schiedsrichtern zu tun haben, die uneitel auftreten und genau wissen, wie es läuft. Das ist ein vorbildliches Miteinander. Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich an dieser Stelle dem harmoniebedürftigen Teil meiner Persönlichkeit nachgebe und ausdrücklich nicht eingehe auf die perversen, asozialen Chaoten, die nicht nur Angst und Schrecken verbreiten, sondern dafür verantwortlich sind, dass ein verzerrtes Bild der EM entsteht. Jedes Wort für dieses Pack ist zu viel.

Marcel Reif (66) ist langjähriger Sportkommentator, unter anderem für die Sender ZDF, RTL und Sky. Jetzt schreibt er für unsere Zeitung in regelmäßigen Abständen eine Kolumne.