Liebe in Zeiten von Corona

Das Altstadttheater startet in die Freilichtsaison: Jubel für Leni Brem-Keil und ihr Stück "Anderthalb Meter"

02.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:18 Uhr
Auf Abstand: Felix (Kolja Heiß) und Aenne (Isabel Kott) lernen sich kennen. −Foto: Wobker

Ingolstadt - Eine Liebesgeschichte in Zeiten des Corona-Lockdowns?

 

Wie soll das gehen, wenn man nicht raus kann? Wenn man erstens kaum Gelegenheit hat, jemanden kennenzulernen? Und man sich zweitens nicht nahekommen darf? Schließlich beträgt der vorgeschriebene Mindestabstand zu anderen Personen mindestens 1,5 Meter. Leni Brem-Keil hat das Szenario in ihrem neuen Stück durchgespielt - und lässt zwei Singles mitten im Lockdown erste, zarte, verwegene Bande knüpfen. "Anderthalb Meter" hat sie ihre zauberhafte Komödie genannt, die am Samstagabend unter ihrer Regie umjubelte Uraufführung feierte. Mit kreativer Kraft hat sich das Altstadttheater damit aus dem Corona-Lockdown zurückgemeldet.

Wirklich alles passt an diesem Premierenabend. Der Regen hat sich rechtzeitig verzogen. Der Innenhof der Donaustraße 3 - zur Verfügung gestellt von der Familie Peters - bietet eine perfekte Kulisse für dieses Zweipersonenstück, das dem Alltag abgelauscht scheint und alle Themen, die die Corona-Krise so mit sich bringt, klug und gewitzt auf den Punkt bringt. Und nicht zuletzt sind es die beiden Schauspieler Isabel Kott und Kolja Heiß, die ihre Figuren in all ihrer Unsicherheit und Ungeduld, in ihrem Zorn und ihrer Ohnmacht, in ihrer Verletzlichkeit und Sprödigkeit zeigen.

Aber der Reihe nach: Aenne und Felix sind Nachbarn. Erst seit Kurzem. Seit Aenne aus Frankfurt hergezogen ist. Eine Trennungsgeschichte. Das Übliche. Aber jetzt sitzt sie hier fest. Wegen Corona. Sie darf nicht raus, weil sie zur Risikogruppe zählt. Was für sie als Fotografin gleichbedeutend mit einem Berufsverbot ist. Und sie beneidet Felix, weil er - im Management eines ungenannten Unternehmens - sein Leben einfach weiterführen kann. Büro, Einkaufen - seine Welt hat sich nur wenig verändert. Das erste Treffen der beiden beginnt mit einem Streit. Sie hat spätabends Musik gemacht. Er hat sich darüber aufgeregt. Aber bald werden die Abende auf der Dachterrasse, die sich beide teilen, für beide immer wichtiger. Sie reden, lästern, zoffen sich. Sie verabreden sich zum Picknick-Date auf eben dieser Dachterrasse. Sie verlieben sich. Und immer mehr wird der "Anderthalb Meter"-Abstand zum Problem.

Schon in ihrem Stück "Wir müssen was tun" stellte Leni Brem-Keil nicht nur ihr Gespür für gesellschaftlich virulente Diskurse, sondern auch ihr Talent für federleichte, aber treffsichere Ping-Pong-Dialoge unter Beweis. Auch in "Anderthalb Meter" findet sich ein hoher Realitätsgehalt. Vieles von dem, was da auf der Bühne verhandelt wird, wird das Publikum wiedererkennen. Die staatlich verordnete und durchgesetzte Massenquarantäne mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens traf jeden anders - je nachdem, welcher Arbeit man nachging, wie man wohnte und mit wem. Isolation, Arbeitsverlust, Existenzsorgen, Einsamkeit, Angst vor Ansteckung (um sich oder andere), Demonstrationen, Warn-App, Infektionsketten, Sehnsucht nach Normalität. Was macht das mit einem, wenn man auf sich selbst zurückgeworfen ist? Wie verändert Corona unsere Gesellschaft? All das verhandelt Leni Brem-Keil hellsichtig, pointiert, mit Witz und Tiefgang. Und setzt das Stück mit viel Esprit in Szene.

Gespielt wird open air: Das Publikum sitzt im lauschigen Innenhof zum Teil unter Bäumen. Hinter einer Mauer, die den Innenhof auf einer Seite begrenzt, ist in luftiger Höhe ein Podest aufgebaut, wo die beiden angrenzenden Dachterrassen verortet werden. Die Musik von The Cure kommt aus großen Lautsprecherboxen. Im Hintergrund spiegelt ein Wohngebäudekomplex Urbanität, rechts und links rahmen Sträucher und Bäume mit romantisch funkelnder Lichterkette die Bühne ein. Hier treffen Aenne und Felix aufeinander, tragen ihre Wortgefechte aus, leeren auch mal gemeinsam zwei Flaschen Bier und kommen sich - trotz vorgeschriebener Distanz - immer näher.

Herrlich ist dieses Zusammenspiel von Isabel Kott und Kolja Heiß. Sie spielt ihre Aenne so wild, frech und ungestüm und gleichzeitig so zart, verletzlich, zweifelnd, verzweifelnd. Er gibt Felix als smarten, ausgebufften, unsentimentalen, kühlen Klotz, der plötzlich ganz neue Seiten an sich entdeckt. Szenenapplaus gibt es auch für sein exzellentes Liegestuhl-Handgemenge a la Buster Keaton.

Aber weil es eben nicht nur um die Corona-Problematik geht, sondern auch um eine Love Story mit allem, was dazugehört - Zögern, Missverständnisse, Herzrasen, Übersprungshandlungen, Wagemut, Wahnsinn, Schweigen, Romantik -, erlebt das Publikum ein so hinreißendes wie anrührendes Beziehungswirrwarr, an dessen Ende - so viel sei schon mal verraten - kein Kuss stehen wird.

"Anderthalb Meter" ist das Stück der Stunde. Es erzählt von Nähe und Distanz. Von Einsamkeit und Sehnsucht. Von Hoffen und Zagen. Und davon, dass Liebe immer kompliziert ist. Federleichte Unterhaltung unter freiem Himmel. Und ein neuer Spielort, der dem Altstadttheater hoffentlich auf Dauer für vergnügliches Sommertheater erhalten bleibt.

DK


ZUM STÜCK:
Theater:
Altstadttheater Ingolstadt, Innenhof der Donaustraße 3
Text und Regie:
Leni Brem-Keil
Dauer:
70 Minuten, keine Pause
Vorstellungen:
bis 22. August, Beginn jeweils um 20.30 Uhr
Karten gibt es beim DK-Ticketservice und unter kontakt@altstadttheater. de.

 

Anja Witzke