Ingolstadt
Letzte Chance Psychiatrie

46-Jähriger muss nach Messerattacke auf Klinikumspfleger nach Haar

03.12.2012 | Stand 03.12.2020, 0:45 Uhr

Ingolstadt (DK) Er ist bereits vorläufig im psychiatrischen Krankenhaus in Haar untergebracht, jetzt muss er dort bis auf Weiteres fest für eine Therapie bleiben: Der 46-jährige Ingolstädter, der an Ostern einen Pfleger des Klinikums mit dem Messer schwer verletzte, ist gestern vom Landgericht verurteilt worden.

Seine letzten Worte vor dem Urteilspruch waren akustisch kaum mehr im Sitzungssaal zu verstehen. Das passte irgendwie ins Bild. In die Welt des 46-Jährigen vermag sich wahrscheinlich wirklich keiner hineinversetzen zu können. Schon gar nicht, wie es heuer am Karfreitag so gegen 21.30 Uhr im Notfallzentrum des Klinikums in ihm aussah. Das war der Moment, als der Ingolstädter im Flur auf dem Weg zum Ausgang war, verfolgt von zwei Pflegern, die ihn auf Anweisung eines Oberarztes daran hindern sollten. In dieser Situation kramte der Mann in einer Plastiktüte, legte ein Jagdmesser mit einer 15 Zentimeter langen Klinge frei, drehte sich und ging mit drei oder vier Schritten auf einen der Pfleger los, dem er das Messer in die Brust stach. Dann flüchtete er aus dem Krankenhaus.

Das lässt sich alles so detailliert auflisten, da das ganze Geschehen in Farbe auf einem Überwachungsvideo verewigt ist. Gestern schauten sich alle Prozessbeteiligten das kurze Filmchen zum dritten Mal im Verlauf der Verhandlung am Landgericht an. Das Video hinterließ bleibenden Eindruck, „der am meisten überrascht war, war mein Mandant selbst“, sagt Anwalt Rainer Maria Rehm, der den 46-Jährigen verteidigte. Der Mann hatte sich die Szene offenbar ganz anders im Kopf zurechtgelegt: Er sei festgehalten worden und habe sich losreißen wollen. Die Bilder beweisen etwas anderes. Er stach absichtlich zu. Doch das ist nur das Offensichtliche, der Geisteszustand des 46-Jährigen ist der entscheidende Punkt.

Aus strafrechtlicher Sicht läuft die Aktion unter versuchtem Totschlag. Das ist aber egal, da der 46-Jährige nicht schuldfähig ist. So stuft ihn der vom Gericht bestellte Gutachter ein, der wie die Ärzte am Ingolstädter Klinikum und in Haar die Geschichte des Herrn bestens kennt: Er ist seit Mitte der 90er Jahre psychisch krank und hat schlimme Halluzinationen. Er fühlt sich von Spinnen verfolgt und leidet unter massiven Angstzuständen. Immer wieder kam er über die Jahre aus eigenen Stücken ins Klinikum, um sich behandeln zu lassen beziehungsweise Medikamente zu holen.

So hatte er das wohl auch für den Karfreitagabend geplant. „Freiwillig rein, freiwillig wieder raus“, erklärte Rehm die Erwartungshaltung. Nur wollte der behandelnde Oberarzt am Klinikum den Patienten dann dortbehalten, weil – so sagte er dem Gericht – dessen Zustand ihm Sorgen bereitete. Das löste eine emotionale Kettenreaktion aus. „Eine Verkettung von absolut unglücklichen Umständen“, so Rehm, der sich als Verteidiger auf der Suche nach Argumenten zu dieser Aussage durchrang: „Wenn die ihn einfach hätten gehen lassen, wäre nichts passiert“. Der Verteidiger schob aber gleich hinterher: „Gott sei Dank ist durch die Verletzung nicht mehr passiert. Die Pfleger machen ja auch nur ihren Job.“

Der Stich in die Brust glitt bei dem Klinikumsmitarbeiter von einer Rippe ab. „Da haben alle riesiges Glück gehabt“, sagte auch der Oberstaatsanwalt Christian Veh. Von den körperlichen Folgen her hat der Pfleger die Tat gut überstanden, psychisch aber belastet die Messerattacke ihn noch immer. Das Opfer sagte im Gerichtssaal über den Angreifer: „Ich glaube, es ist das beste für ihn, wenn er sich behandeln lässt.“ Ankläger Veh forderte: „Im momentanen Zustand kann man ihn nicht rauslassen.“

So sah das auch das Schwurgericht am Landgericht, das den 46-Jährigen fest in die Psychiatrie einweist. Dass der Kranke sich vor dem verhängnisvollen Zwischenfall noch nie hat etwas zuschulden kommen lassen und sogar von den Ärzten als völlig harmloser Mensch bezeichnet wurde, konnte das Gericht nicht umstimmen. Vizepräsident Paul Weingartner sagte dem 46-Jährigen: „Das ist das gefährliche an der Erkrankung: Sie sind unberechenbar und schätzen Situationen falsch ein.“ Zumal der 46-Jährige eben mit einem Messer herumlief, weil er sich selbst Schauergeschichten über die Umgangsformen im Klinikum einredete. Weingartner machte ihm für die Zeit in der geschlossenen Psychiatrie aber Hoffnung: „Das heißt ja nicht, dass Sie da bis zum St. Nimmerleinstag drin sind. Aber entweder wir packen ihre Behandlung jetzt an – oder nie mehr!“