München
Lethargie in Zimmerlautstärke

Gesellschaft der Egomanen: Martin Kusej inszenierte Tschechows "Iwanow" am Münchner Residenztheater

12.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:41 Uhr

Sie baden in Selbstmitleid, langweilen sich zu Tode und sind allesamt dem Untergang geweiht: die Iwanows und ihr Anhang, wie Martin Kusej sie auf die Bühne des Residenztheaters bringt. - Foto: Horn

München (DK) Clever ist es vom Regie führenden Intendanten allemal, die Schauspieler in dieser von ihm inszenierten Produktion so leise sprechen zu lassen, dass nur die Zuschauer in den ersten Reihen noch verstehen, was auf der Bühne gesagt und verhandelt wird. Denn die teureren Premiumplätze, die den Etat aufstocken, sind damit stets ausverkauft.

Doch ob die Kasse letztlich stimmt, wenn die mittleren und hinteren Reihen des Residenztheaters deshalb leer bleiben, darf bezweifelt werden. Und ein Ärgernis bleibt's, wenn die bewusst reduzierte Lautstärke des Schauspielensembles den Genuss der Zuschauer am Stück und am Spiel erheblich schmälert.

Dabei setzte Martin Kusej den gedämpften Ton ganz bewusst ein, um die bleierne Lethargie und die Perspektivlosigkeit der Figuren samt dem Untergangsszenario in Anton Tschechows frühem Stück "Iwanow" (1887) zu verdeutlichen. Denn kaputt sind sie alle, die Mitglieder, Freunde und wirtschaftlich Abhängigen des Iwanow-Clans in der russischen Provinz. Sterbenskrank vor Langeweile sind sie und schwermütig geworden wegen des Nichtstuns, weshalb sie auch ausgiebig in Selbstmitleid baden. So lässt Kusej die Gesellschaft dieser Egomanen als traurige Gestalten im zweiten Akt schon mal quälend lange schweigend sich anöden, um nach kurzen Hysterie-Eruptionen einiger weiblicher Mitglieder und schnell versiegender Macho-Allüren einiger männlicher abermals minutenlang in Stille zu schwelgen. Kein Wunder, dass die Aufführung fast dreieinhalb Stunden dauert.

Doch nicht nur mit Schweigen und gedämpftem Smalltalk schlagen sich die Mitglieder dieser Sippschaft die Zeit tot, sondern auch mit langatmigem Teegenuss und stumpfsinnigem Kartenspiel. Dazu keift Ulrike Willenbacher als restlos verbitterte Alte herrlich böse, während Alfred Kleinheinz in gepflegtester englischer Butler-Manier die Halbtoten mit Wodka und Witzchen aufzuheitern versucht. Zwischendurch gibt's - um die Langeweile zu durchbrechen - auch ein paar amouröse Annäherungsversuche. Doch dem Untergang geweiht, sitzen sie alle auf den Stühlen den Rest ihres Lebens ab.

Iwanows Gattin Anna Petrowna (mit Stolz und Würde: Sophie von Kessel) ist unheilbar lungenkrank, weshalb die liebesdurstige Sascha (Genija Rykova) dem total verschuldeten Gutsbesitzer nicht nur an die Wäsche geht, sondern ihn auch animiert, mit ihr ein neues Leben in Amerika oder sonstwo zu beginnen. Die Tochter des mit reichlich Sarkasmus und noch mehr Wodka-Durst gesegneten Gutsverwalters Lebedjew (köstlich: Oliver Nägele) und dessen herrschsüchtiger Frau (Juliane Köhler) ist sie, deren Liaison die Situation auch nicht einfacher macht, da ihr erhoffter Bräutigam bei ihren Eltern finanziell gewaltig in der Kreide steht.

Unterdessen macht Iwanows eitler Hausarzt Dr. Lwow (Till Firit) Anna Petrowna Avancen, was den eh schon verzweifelten Gutsbesitzer (voll Seelenqual: Thomas Loibl) noch tiefer in Depressionen und Selbsthass stürzt. Und als Iwanows Onkel Graf Schabjelski als alter Geck (René Dumont) der reichen Witwe Babakina (Hanna Scheibe als in die Jahre gekommene schmollmündige Barbie-Puppe) eindeutige Angebote macht, während Iwanow die schon längst fälligen Zinsen nicht gestundet werden, ist Iwanows Zusammenbruch vorprogrammiert.

Zum Showdown kommt es schließlich mit dem Selbstmord Iwanows: Tabula rasa nach über drei Stunden Dramatik im Entschleunigungstempo, entlang oder leider oft genug auch unterhalb der Hörbarkeitsgrenze. Doch all die zerstobenen Hoffnungen und das an Masochismus grenzende Selbstmitleid aller Figuren rühren die Zuschauer durchaus. Eine Aufführung der leisen Langsamkeit, der Melancholie und des Verlöschens jeglicher Lebensfreude!

Weitere Aufführungen am 21. und 30. Juni sowie am 6., 16. und 20. Juli. Karten unter der Tel. (089) 21 85-19 40.