Lesen, schreiben, miteinander sprechen

Eröffnung der 28. Literaturtage Ingolstadt mit Ingo Schulze im Kulturzentrum neun

08.06.2021 | Stand 23.09.2023, 19:04 Uhr
Ingo Schulze beim Signieren in Ingolstadt. −Foto: bfr

Ingolstadt - Endlich wieder reale Begegnungen zwischen Autor und Leser!

Die Freude und die Erleichterung, dass die 28. Ingolstädter Literaturtage vor Publikum live stattfinden, war am Montagabend im Kulturzentrum neun Ingolstadt spürbar. Bei Kulturreferent Gabriel Engert, der die Bedeutung von Literatur betonte - "sie hinterfragt, deckt auf, regt die Fantasie an, macht einfach Spaß". Bei Ingo Schulze, der mit seinem erst im Mai erschienenen Erzählband "Tasso im Irrenhaus" aus Berlin angereist war. Und bei Moderator Dirk Kruse, der den 1962 in Dresden geborenen Schulze als einen der wichtigsten Gegenwartsautoren vorstellte. Schließlich schaffe es Schulze, gleichermaßen von der Kritik geschätzt, deshalb vielfach ausgezeichnet - gerade erst mit dem Dresdner Kunstpreis und dem Preis der Literaturhäuser - und vom Publikum geliebt zu werden. Regelmäßig landet er Bestseller. Nicht ohne Grund.

Seine Bücher sind geprägt von Humor und kritisch-sorgfältigem Blick auf die Menschen und das, was Bertold Brecht "die Verhältnisse" nannte. Diese sind nicht so, wie sie der Mensch gerne hätte. Der Grund ist dünn, auf dem sich dieser bewegt. Insbesondere Literaten und Künstler spüren das, reagieren darauf in ihren Werken. Ingo Schulze ist ihrer aller Chronist. Ein mitfühlender, nachdenklicher Beobachter, der selbst seine Kurzgeschichten nie "in einem Rutsch" schreibt, es "immer ein Stoppen" gibt. Vor allem gibt es ein Lesen dort, wo ihm die eigene Erfahrung fehle, wie er im Gespräch mit Dirk Kruse sagte: "Würde ich nicht lesen, würde ich nicht schreiben. " Weshalb die drei Künstlernovellen - "Das Deutschlandgerät", "Tasso im Irrenhaus" und "Die Vorlesung" - aus selbst Erfahrenem, Betrachtetem und Gelesenem komponiert sind. Im Mittelpunkt stehen Literaten, Künstler und Kunstwerke.

Das Deutschlandgerät von Reinhard Mucha, das dieser für den Deutschen Pavillon zur Biennale von Venedig 1990 schuf und danach im K21-Museum in Düsseldorf verändert wieder aufbaute, spiegelt und konterkariert das Gespräch zwischen einem jungen Autor und einem älteren, dem Dissidenten, der im Westen nie richtig ankam. Aus der DDR angekommen scheitert dieser am Zwang zwischen Anpassung und Widerstand und an der Frage, wie frei Kunst und Literatur in Demokratien sind. Erfahrungen, die viele Intellektuelle der DDR nach der Wende beschäftigte. Dass hinter den Figuren dieser Erzählung reale Personen durchleuchten wie etwa Rainer Kunze, Günther Kunert oder Sarah Kirsch, betonte Moderator Dirk Kruse. Worauf Ingo Schulze sagte, dass die Erzählung auch ohne dieses Wissen zu verstehen sei, gibt sie doch die Befindlichkeit vieler anderer wider, die, in der Hoffnung auf Freiheit, sich mit dem anderen Zwang zur Konformität konfrontiert sahen.
Vor dem Delacroix-Bild "Tasso im Irrenhaus" in einem Schweizer Museum, stört ein älterer Herr, ein Schweizer, einen ostdeutschen Schriftsteller und lässt dabei eine Suada über die Schweiz los, "die ich so nicht gewagt hätte zu schreiben", so Schulze. So besteht diese Kritik an der angeblichen Neutralität der Schweiz und ihrem Wohlstand, dass letzterer nur durch das Bankensystem, dem berühmten Bankgeheimnis, zustandekam und -kommt, weil hier Geld aus schmutzigen Geschäften sicher sei, aus Zitaten Friedrich Dürrenmatts oder Peter Bichsel. Was Dirk Kruse als Intertextualität als Arbeitsprinzip Schulzes ausmachte. Sein Arbeiten basiere immer wieder auf literarischen Zitaten als Untergrund. "Ja, ich will als Autor glaubhaft sein, nur über das schreiben, über das ich Bescheid weiß. Fehlt mir etwas, dann montiere ich Motive, Zitate, auch den Stil erkennbar. "

Die letzte Geschichte, "Die Vorlesung", sei aus der Bekanntschaft und den Besuchen des Malers Johannes Grützke im Hospiz entstanden, "aber tatsächlich nicht exakt so gewesen". Selbst wenn der Schriftsteller, der hier dem Bildenden Künstler begegnet, weil er über ein Bild des Malers schreibe solle, sogar Schulze heißt. Die Unterhaltungen der anderen Besucherinnen und Besucher über das Bild seien erfunden, um das Kernthema Schulzes - Was ist Kunst? Was darf ein Künstler? - zu verdeutlichen.

Diese Fragen stehen für das Menschsein: "Kunst und Literatur sind gesteigertes Leben. " Und: "Um das Leben, um einander zu erkennen, muss man miteinander ins Gespräch kommen. " Wie es die Figuren, die Schriftsteller und Künstler, in den drei Erzählungen tun. Die sind übrigens schon separat erschienen und wurden jetzt überarbeitet zu einem Erzählband, der nicht nur erhellend geschrieben ist, sondern Spaß zu lesen macht, wie Kulturreferent Gabriel Engert zur Begrüßung über Literatur sagte.

DK


Barbara Fröhlich