Ingolstadt
Lektion in Sachen Menschlichkeit

Mit "Gegen den Hass" gelingt dem Jungen Theater Ingolstadt ein beeindruckender Spielzeitstart

07.10.2018 | Stand 23.09.2023, 4:35 Uhr
Bilder von großer Poesie und Klarheit: Benjamin Dami, Paula Gendrisch, Olivia Wendt (von link) beim Spiel mit einer filigranen Gliederpuppe. "Gegen den Hass" feierte in der Werkstatt Premiere. −Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Drinnen wummert der Beat, draußen sieht man lange Gesichter - zumindest bei denen, denen Türsteher Benjamin Dami den Eintritt verwehrt.

Seine Auswahlkriterien sind beliebig: erst Brillenträger, dann blonde Frauen, Hemdenträger, dazwischen Geburtstagskinder oder die, die man kennt. Schon beim Einlass gibt es eine kleine Lektion in Sachen Ausgrenzung. So wie Carolin Emcke es in ihrem Buch "Gegen den Hass" formuliert. Wer bestimmt über die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft? Wer legt fest, dass nur eine bestimmte Art, sich zu kleiden, zu sprechen, zu leben, lieben, glauben erlaubt ist? Welche Kriterien entscheiden über soziale Anerkennung, Freiheitsrechte, Zugang zu Chancen - oder wie hier zum Theaterraum?

Oft sind sie willkürlich. Das wird schnell klar. Später werden Beispiele aus dem Buch auf der Bühne genannt. Und weil sie so surreal sind, wird das Publikum darüber lachen: Was wäre denn, wenn in der Bundesrepublik nur Personen mit absolutem Gehör eine Schreinerlehre absolvieren dürften? Oder wenn Menschen, die stottern, der Zugang zu öffentlichen Schwimmbädern verweigert würden? "Viele der gängigen Diskriminierungen und Ausgrenzungen sind nicht weniger absurd als die aufgeführten", schreibt Carolin Emcke.

In ihrem Buch "Gegen den Hass" setzt sich die promovierte Philosophin und streitbare Publizistin mit der wachsenden Aggressivität, dem Rassismus, dem religiösen und nationalistischen Fanatismus auseinander, der längst nicht mehr nur am rechten Rand verortet ist, sondern bereits die Mitte der Gesellschaft erreicht hat. "Etwas hat sich verändert in der Bundesrepublik: Es wird hemmungslos gehasst. "

Und genau das hat das Junge Theater Ingolstadt bewogen, den Text auf die Bühne zu bringen und mit ihm am Freitagabend die Spielzeit in der Werkstatt zu eröffnen. Ein gewagtes Unterfangen. Denn Carolin Emckes 240-Seiten-Text ist eigentlich unspielbar. Es gibt keine Geschichte, die sich einfach nacherzählen ließe. Und weder Sprache noch Inhalt sind leicht konsumierbar - schon gar nicht für Jugendliche. Denn gedacht ist die Produktion für ein Publikum ab 15 Jahren.

Doch so, wie sich Regisseurin Mia Constantine und ihr Team auf Spurensuche nach den Ursachen dieses Hasses begeben, ist das so erhellend wie unterhaltsam. Zwar folgt sie im Wesentlichen der Struktur des Buches und nutzt bisweilen auch konkrete Beispiele daraus, doch sie verknappt, verdeutlicht, übersetzt, nutzt eine anschauliche Sprache, findet eigene Bilder von großer Poesie und Klarheit, innovative spielerische Formate, die die Fragen des Essays eindrucksvoll auf die Bühne bringen. Wer sind WIR? Und warum hassen wir DIE? Woraus speist sich Hass? Welche Rolle spielen Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Sozialisation? Woher kommen Vorurteile, Angst, Ohnmacht, Dumpfheit, Wut? Was kann man diesem Hass entgegensetzen? Und zwar jeder einzelne von uns?

Die Produktion besticht nicht nur durch inhaltliche Relevanz und theatrale Prägnanz, sondern auch durch ihr ästhetisches Konzept: schwarz verspiegelter Boden, schwarze Transparent-Stoffbahnen, die mal den nahezu leeren Bühnenraum begrenzen, mal als Projektionsfläche für Videoeinspieler dienen (Bühne/Video: Michael Lindner). Die drei Schauspieler Benjamin Dami, Paula Gendrisch, Olivia Wendt treten im grau-schwarzen Casual Look auf (Kostüme: Christine Leers), der sich als höchst wandelbar erweist: Kapuze auf, Gesichtsschutz hochgezogen - schon ist man Teil der rechten Szene. Und genauso schnell funktioniert die Rückverwandlung - von der Masse zum Individuum.

Spannend ist der Mix der performativen Elemente: Natürlich wird das Video aus Clausnitz eingespielt, auf dem ein wütender Mob einen Bus mit verängstigten Flüchtlingen bedroht. Eine zentrale Stelle in Carolin Emckes Buch. In Ingolstadt mischen sich die drei Schauspieler unters Publikum, lassen immer wieder das Video stoppen, sprechen über das Gesehene, analysieren es, suchen nach Antworten. Probieren einen Perspektivwechsel aus. Herrlich komisch ist diese Szene, in der Paula Gendrisch mit verschiedenen Brillen experimentiert. Und höchst aufschlussreich dazu.

Nachdenklich macht es, wenn Benjamin Dami (Sohn eines Tunesiers und einer Französin, aber geboren in Frankfurt) von persönlichen Erfahrungen mit Ressentiments erzählt. So skurril wie entlarvend ist es, wenn der Hass selbst in der Talk-Show zu Wort kommt. Und berührend ist das Spiel mit der filigranen Gliederpuppe aus Papier, die Mirjam Schollmeyer für die Produktion gebaut hat. Ein fragiles Menschlein, ein unbeschriebenes Blatt, das erst durch die Hilfe der drei Schauspieler gehen, springen, tanzen lernt. Das nur mit anderen existieren und wachsen kann - und zerstörerischen Kräften nichts entgegenzusetzen vermag. Dazu Musik, die sich mit dem Hintergrundrauschen der Welt aus (Fake) News und Netzwerken vermischt.

Es ist ein Gesamtkunstwerk, das Mia Constantine da mit ihrem Team geschaffen hat: klug, emotional, lehrreich, mit durchaus komischen Elementen und einer wichtigen Botschaft. Es geht um Haltung und Mut, um Respekt im Miteinander, um Empathie und Dialogbereitschaft, um Menschen und Menschlichkeit. Nach einer guten Stunde gab es dafür viel Jubel und langen Applaus. Ein bemerkenswerter Spielzeitauftakt im Jungen Theater.

Neben zahlreichen Schülervorstellungen gibt es am 27. Oktober eine Vorstellung im freien Verkauf. Kartentelefon (0841) 305-47200 Weitere Informationen unter www. theater. ingolstadt. de.

Anja Witzke