Ingolstadt
Lebende Bücher erzählen

Aktion in der Stadtbücherei macht auf Schicksale von Flüchtlingen und Migranten aufmerksam

25.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:46 Uhr

Ein lebendes Buch erzählt: Aufmerksam hört Heike Marx-Teykal (links) der Lebensgeschichte einer Muslima zu, die seit drei Jahren in Ingolstadt lebt. Sie berichtet von ihren Ängsten und Hoffnungen. - Foto: Brandl

Ingolstadt (DK) Ist jemand offen wie ein Buch, dann erzählt er sprichwörtlich gerne und freimütig aus seinem Leben. Offene, besser gesagt, lebende Bücher warteten gestern Nachmittag in der Stadtbücherei im Herzogskasten auf die Besucher.

Gemeint sind damit in diesem Fall freilich Menschen, die sich oft mit Vorurteilen anderer konfrontiert sehen. Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten sind derzeit davon besonders betroffen.

Vier von ihnen hatte die Stadtbücherei in Zusammenarbeit mit dem Amt für Soziales eingeladen. Für eine "Leihfrist" von 20 Minuten konnten sie sich mit ihren "Lesern" zusammensetzen und in einer persönlichen Atmosphäre aus ihrem Leben und von ihrem Schicksal berichten. Ziel der Aktion: Hemmschwellen voreinander abzubauen und Vorurteile auszuräumen. Unter den lebenden Büchern befand sich auch eine Muslima mit Kopftuch, ein Zeichen des Glaubens, das in Deutschland nach wie vor oft Irritation auslöst. Die gebürtige Bosnierin, 20 Jahre alt und Mutter eines kleinen Sohnes, setzte sich mit Heike Marx-Teykal, Leiterin der Stadtbücherei, zusammen. Auf Fotos erkannt werden möchte sie nicht. Zu groß seien noch die Ängste, in der Öffentlichkeit auf Unverständnis zu stoßen. Seit drei Jahren lebe sie nun mit ihrem Mann hier, berichtet sie. "Warum sind Sie geflohen", fragt Marx-Teykal. Die schüchterne Frau holt weit aus. Sie stamme aus einer großen Familie. Der Vater stirbt, als sie noch ein Baby war. Die Mutter heiratet wieder, doch der Stiefvater entpuppt sich als gefühlloser Patriarch, der die Kinder von morgens bis abends arbeiten lässt und sie schlägt. "Er war nicht gut", fasst es die Frau mit einfachen Worten zusammen. Die Familie flieht nach Österreich. Von dort aus geht die Bosnierin nach Ingolstadt, bekommt hier ihr Kind. Kontakt zur Familie habe sie nicht mehr. "Der Bruder hat es verboten", beteuert sie.

"Können Sie bleiben", möchte Marx-Teykal wissen. Ihre Aufenthaltsgenehmigung laufe ein Jahr, sagt die Muslima. Sie habe aber schon einen Sprachkurs absolviert und möchte unbedingt den Hauptschulabschluss erwerben. Ob sie sich mit dem Kopftuch sicher fühle, wird sie gefragt. "Manchmal habe ich Angst, wenn ich auf der Straße die Demos sehe", sagt die Frau und ergänzt: "Vielleicht kann ich irgendwann vergessen, was geschehen ist, auch wenn man das eigentlich nicht vergessen kann." Doch sie habe auch Hoffnung. Hoffnung, die ihr ihre junge Familie gibt.

Die Idee der lebenden Bücher sei mittlerweile in vielen Städten verbreitet und stammt ursprünglich aus den USA, heißt es seitens der Stadtbücherei. Wichtig sei hierbei, dass nicht über die betroffenen Personen, sondern mit ihnen gesprochen werde, betont Barbara Blumenwitz vom Amt für Soziales.