München
Langes Anstehen für den Traumjob

Stewardess-Casting der Lufthansa in München

05.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:15 Uhr
Flugbegleiterinnen in Uniformen: Die Linke stammt aus den 1950er-Jahren, die Mittlere aus den 1970er-Jahren, und ganz rechts ist die aktuelle Uniform. −Foto: Stäbler

München (DK) Die Lufthansa macht auf Heidi Klum und sucht „Germany’s Next Stewardess“. Beim Flugbegleiter-Casting in München ist der Andrang riesig – auch weil eine andere deutsche Airline zuletzt in die Pleite geflogen ist.

Ein letztes Mal blickt Heidi Klum, die hier Rüdiger Lauer heißt, von ihrem Zettel auf. Ihm vis-à-vis stehen vier Frauen und drei Männer, dicht an dicht im Halbkreis. Ihre bangen Blicke hängen an Lauers Lippen, in den Gesichtern spiegelt sich die Aufregung. Hier nestelt eine der Frauen nervös an ihrer Handtasche, dort wippt ein Mann unablässig in seinen Lederschuhen auf und nieder. Rüdiger Lauers Blick wandert von einem zum nächsten, dann formt sich ein Lächeln auf seinen Lippen, und er verkündet: „Ich darf Ihnen allen gratulieren!“ Was nun folgt, sind Szenen, wie man sie hinlänglich aus Casting-Shows à la „Germany's Next Topmodel“ kennt. Die Kandidaten reißen die Augen auf und fallen einander in die Arme; spitze Jubelschreie mischen sich mit stumpfen Seufzern der Erleichterung, eine der Frauen reicht Taschentücher herum – um Hände zu trocknen oder Freudentränen wegzuwischen.

„Es war ein super Glücksgefühl“, wird Sandra Krieghoff später beschreiben. Wobei die 30-Jährige nicht etwa von einer Model-Karriere träumt – und anders als bei Heidi Klum bekommen sie und die weiteren Kandidaten von Rüdiger Lauer auch kein „Foto für dich“, sondern eine Bordkarte in die Hand gedrückt. Diese ist quasi ein Arbeitsvertrag mit der Lufthansa. Denn die größte deutsche Airline sucht hier, in der Alten Kongresshalle in München, nach Flugbegleitern – mittels Casting.

Selbiges hat die Lufthansa erstmals im Sommer 2016 ausprobiert. Der Grund: Der expandierende Konzern sucht händeringend nach Flugbegleitern; allein nächstes Jahr sollen in Frankfurt und München 2200 neue Stewardessen und Stewards eingestellt werden. Und über den herkömmlichen Weg – sprich Bewerbungsmappe, Vorstellungsgespräch, et cetera – melden sich schlicht zu wenige Kandidaten. Also hat die Lufthansa ein Casting-Format ersonnen, das den Einstellungsprozess radikal verkürzt: Hier können Bewerber ohne Anmeldung und Unterlagen vorbeikommen und erfahren noch am gleichen Tag, ob sie den Job erhalten – oder nicht.

Bereits 16 solcher Castings hat der Konzern in diversen Städten abgehalten; insgesamt kamen 4200 Bewerber, von denen rund ein Drittel genommen wurde. Der Andrang sei überall groß gewesen, berichtet ein Lufthansa-Sprecher – aber nie so gewaltig wie bei Nummer 17 in München. Das hat nicht zuletzt mit den Turbulenzen zu tun, in die eine andere Airline zuletzt geflogen ist – doch dazu später. Zunächst zurück zu Sandra Krieghoff, die sich sechs Stunden, ehe sie die begehrte Bordkarte in Empfang nehmen wird, in die Warteschlange vor der Kongresshalle einreiht – um 5.45 Uhr. Offiziell beginnt das Casting um 9 Uhr, doch die ersten Bewerber haben sich fünf Stunden vorher ihre Plätze gesichert. Als die Türen aufgehen, reicht die Schlange Hunderte Meter weit. Man sieht viele junge Frauen, viele Kostüme, viele High Heels – und viele besorgte Gesichter. Denn „aus Kapazitätsgründen“, so der Konzernsprecher, könne man heute nur rund 300 Bewerber einlassen. Bedeutet: Etwa doppelt so viele Wartende müssen unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Wieso der Beruf der Flugbegleiterin – rund 80 Prozent der Bewerber sind weiblich – immer noch so eine große Anziehungskraft ausübt? Wer sich in der Warteschlange umhört, bekommt vor allem zwei Antworten. Erstens: Ich will mit Menschen arbeiten. Zweitens: Ich will die Welt sehen. Oder wie es Jost Lauter ausdrückt, der für die rund 6000 Flugbegleiter in München zuständig ist: „In welchem anderen Beruf hat man schon die Chance, an einem Tag nach New York zu fliegen und sich die Freiheitsstatue anzuschauen, und am nächsten Tag weiter nach China zu fliegen und die Chinesische Mauer zu besuchen?“ Wobei das etwas zu sehr nach Urlaub klingt, denn in der Realität haben Flugbegleiter nach einem Langstreckenflug nicht wie vor Jahrzehnten noch mehrere Tage, sondern oft nur 36 Stunden Ruhezeit – danach geht’s wieder nach Hause. Und reich wird man als Stewardess auch nicht: Die Lufthansa bietet den Job in zwei Varianten an, als 50- und 83-Prozent-Stelle, für 956 und 1417 Euro Grundgehalt im Monat. Brutto. Und bevor es in die Lüfte geht, wartet eine zwölfwöchige Schulung – bei monatlich 380 Euro Aufwandsentschädigung.

Und dennoch ist und bleibt der Job im Flieger für viele ein Traumberuf – so auch für Sandra Krieghoff, die weiß, wovon sie spricht. Denn die Münchnerin war sieben Jahre lang Flugbegleiterin bei Air Berlin. Doch nach deren Pleite droht ihr nun die Arbeitslosigkeit – so wie mehreren Tausend Kollegen. Zahllose von ihnen sind heute aus der halben Republik zu diesem Casting gekommen und müssen erst mal – sofern sie rechtzeitig da waren – zum sogenannten Check-in.

Hier prüft ein Lufthansa-Mitarbeiter, ob der Bewerber die Grundvoraussetzungen erfüllt. Als da wären: mindestens 18 Jahre alt, mindestens 1,60 Meter groß, dazu ein „angemessenes Körpergewicht.“ Zudem braucht es einen Schulabschluss und einen Reisepass ohne Einschränkungen; überdies müssen die Bewerber schwimmen sowie Deutsch und Englisch sprechen können. Und nicht zuletzt: Sichtbare Tattoos oder Piercings sind tabu. Wer all dies erfüllt, darf zum „Pre-Screening“ – die erste „Challenge“, wie das bei Heidi Klum heißen würde. Gemeint ist ein zehnminütiges Gespräch auf Englisch mit einem Personaler, der Motivation und Vorwissen des Bewerbers abklopft. Bereits danach werden die Ersten ausgesiebt – so auch eine 45-Jährige, die ebenfalls bei Air Berlin fliegt. Noch. Sie ist extra aus Frankfurt angereist, heute um 4 Uhr aufgestanden und ringt nun mit den Tränen. „Sie haben gesagt, mein Englisch ist nicht gut genug“, schluchzt sie leise. Derweil hat Sandra Krieghoff das Pre-Screening gemeistert und darf nun sozusagen in den Recall – zu einem halbstündigen Psychologengespräch. „Da geht es dann in die Tiefe“, sagt Jost Lauter. „Es wird geprüft, wie die Bewerberin auf Menschen zugeht, wie ihr Verständnis von Service ist, und wie sie mit Konfliktsituationen umgeht.“ 

Danach heißt es abermals warten – bis Rüdiger Lauer die finale Entscheidung verkündet. Der Lufthansa-Mann tut dies übrigens weder bissig wie Bohlen noch kühl wie Klum. Stattdessen gibt es warme Worte für die Aussortierten – und ein strahlendes Lächeln für die Erwählten. Sie bekommen nun endlich die ersehnte Bordkarte überreicht – das Ticket zum Job über den Wolken.

Zum Abschluss gibt es noch ein Erinnerungsfoto vor einem Bild der Brooklyn Bridge. Und Sandra Krieghoff? Die hält ihre Bordkarte fest umklammert und sagt strahlend: „Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.“