München
Kuscheln mit Krabbeltieren

Wer Angst vor Spinnen hat, kann dagegen bei speziellen Seminaren im Tierpark Hellabrunn etwas tun

26.03.2012 | Stand 03.12.2020, 1:40 Uhr

Vogelspinne „Agathe“ ist den Kontakt mit Menschen gewohnt. Hier krabbelt sie über die Hand einer Seminarteilnehmerin.

München (DK) Viele Menschen leiden unter Phobien, besonders vor Spinnen oder Schlangen. Der Münchner Tierpark Hellabrunn bietet jetzt Seminare an, bei denen Therapeuten helfen, Ängste zu beherrschen und zu überwinden.

Susanne Hartung streckt den Hals ein wenig nach vorne. Sie will das Ding zwei Meter vor ihr etwas genauer anschauen, aber näher hingehen will sie auf keinen Fall. „Sechs, sieben, das sind ja mehr als acht“, sagt sie. „Ja, die zwei kleinen vorne sind keine Beine, das sind die Taster, so eine Art Fühler,“ antwortet Ursula Riedinger. Ein Schütteln fährt sofort durch Susanne Hartungs Körper, von den Haarspitzen bis zu den Zehen.

Dabei ist das, auf was die 21-Jährige gerade blickt, gar keine echte Spinne, sondern nur Haut. Aber diese wirkt täuschend echt, denn die Haut von Vogelspinnen ist wie eine Rüstung, die nach dem Häuten nahezu unversehrt zurückbleibt, mit Beinen, Tastern und Haaren.

Allein der Blick auf diese abgestreifte Rüstung reicht, um bei Susanne Hartung Panik auszulösen. Psychotherapeutin Ursula Riedinger vom Münchner Tierpark Hellabrunn will diese Panik lindern.

Sechs Phobie-Patienten sind an diesem Tag zu Ursula Riedinger und ihren drei Kolleginnen gekommen. „Angst ist zunächst einmal etwas ganz Natürliches“, sagt die Therapeutin zu Beginn. Manchmal aber werde die Angst so groß, dass sie über das Leben der Menschen bestimmt. Die Angst beginnt das Leben zu diktieren. „Die Leute betreten dann einen Raum nicht mehr, weil sie dort irgendwann mal eine Spinne gesehen haben. Sie gehen nicht mehr in den Keller oder auf den Dachboden“, sagt Riedinger.

Menschen mit solchen Phobien ekeln sich nicht einfach nur, sie bekommen Schweißausbrüche und Panikattacken, beginnen zu hyperventilieren. Ungefähr zehn Prozent der Deutschen leiden an einer Phobie: vor Tieren, vor Höhe oder Enge, vor Brücken oder Tunneln.

Susanne Hartung steht jetzt direkt vor der leeren Spinnenhaut. Aber sie zögert noch, obwohl sie genau weiß: „Das ist nur tote Haut.“ Aber ihr Gehirn gehorcht ihr in der Angst nicht mehr. „Schau zum Fenster raus, lenk dich ab, versuch ruhig zu atmen“, sagt Ursula Riedinger. „Du bestimmst das Tempo.“ Susanne fasst allen Mut zusammen und nimmt die Spinnenhaut in ihre Hand. „Ist die weich“, sagt sie überrascht. Sekunde um Sekunde verschwindet die Angst aus ihren Augen und weicht der Faszination für das, was sie da in Händen hält. Bis zu diesem Erlebnis ist die Hälfte des Seminars bereits vorbei. Angst zu überwinden braucht Zeit.

„Angstreaktionen sind angelernt und haben sich in unserem Gehirn eingebrannt“, sagt Riedinger. Man müsse das Gehirn wieder behutsam umprogrammieren, um eine Phobie zu überwinden. Nachdem Ursula Riedinger den Seminarteilnehmern alles über die Entstehung von Phobien erklärt hat, übernimmt ihre Kollegin Viola Richter. Entspannungsübungen, Atemübungen und Meditation stehen nun auf dem Programm. Die Teilnehmer lernen, ihren Körper und ihre Gefühle zu kontrollieren. Das soll ihnen helfen, nachher die Kontrolle nicht an die Angst abzugeben. Ganz langsam werden Susanne Hartung und ihre Mitstreiter an das Objekt ihrer Panik herangeführt. Erst mit Stofftieren, dann mit Plastikspinnen.

Für Phobie-Patienten ist diese Schritt-für-Schritt-Taktik ungeheuer wichtig. Susanne hatte mit dem Stofftier überhaupt kein Problem, mit der Plastikspinne auch nicht, denn „das sieht man ja gleich, dass die nicht echt ist“. Bei der Haut hat ihr das aber nicht mehr geholfen, das Programm in ihrem Gehirn lief an, ohne dass sie Einfluss darauf hatte. Trotzdem hat sie sich am Ende überwunden, die anderen Teilnehmer zollen ihr Respekt.

Nach sechs Stunden Therapie, Übungen und Meditation ist der Moment da. Susanne Hartung sieht vor sich auf einem Tisch wieder die Haut einer Vogelspinne, aber darin steckt diesmal auch Leben. Das Leben trägt sogar einen Namen: Agathe. Agathe ist acht Zentimeter lang, nochmal sechs Zentimeter ist jedes ihrer Beine. Sie ist schwarz und grau, an den Beinen ein bisschen braun, und sie hat Haare. Susanne hält Sicherheitsabstand. Vor ihr ist ihre Mit-Probandin Myriam dran. Tierpfleger Norbert Schacher nimmt Vogelspinne „Agathe“ in seine Hand. Agathe lässt das alles friedlich über sich ergehen, sie ist den Kontakt mit Menschen gewohnt. Und würde sie beißen, wäre es nicht schlimmer als ein Wespenstich, versichert Schacher. Langsam lässt Myriam „Agathe“ über ihre Hand krabbeln.

Susanne steht jetzt direkt neben ihr, mehr fasziniert als ängstlich. Nie hätte sie sich vorstellen können, überhaupt mit einer lebendigen Vogelspinne in einem Raum zu sein. Doch als Norbert Schacher sie fragt, ob auch Susanne die Spinne mal anfassen wolle, winkt sie ab.

„Das ist auch völlig in Ordnung“, sagt Ursula Riedinger. „Niemand muss die Spinne am Ende anfassen.“ Aber auch so hat Susanne an diesem Tag viel von ihrer Angst verloren. Sie denkt jetzt anders über Spinnen, und sie weiß: Angst ist etwas, das man kontrollieren kann. Wenn man es erst einmal gelernt hat.