Ingolstadt
Kunst zum Hören, Musik zum Sehen

Patricia Kopatchinskaja und Pekka Kuusisto musizieren zwischen Werken von Carlos Cruz-Diez

19.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:46 Uhr
  −Foto: Alexander Heinl

Ingolstadt (DK) Gehört Musik ins Museum? Vielleicht. Zumindest, wenn sie so klingt wie "Klangillusionen - Violin Phase" von Steve Reich. Der Amerikaner ist einer der wichtigsten Vertreter der Minimal Music, einer Stilrichtung, die mit der ständigen Wiederholung bestimmter musikalischer Elemente arbeitet.

Der finnische Geiger Pekka Kuusisto (41) zieht sich für das Stück in den hinteren Teil des Museums für Konkrete Kunst zurück, nahezu unsichtbar für das Publikum. Sein Spiel wird verfremdet im gesamten Museum mit Beamern und über Lautsprecher übertragen. Kuusisto trägt eine Art schwarzen Poncho: wie ein Schamane der neuen Musik. Aus dem Saal erklingt immer wieder die gleiche einfache Phrase, immer wieder wiederholt sie sich, bis zum Überdruss. Aber plötzlich hört man mehr. Es sind offenbar zwei Geigen, die da spielen. Betonungen fallen auf, Ungleichmäßigkeiten. Interferenzen bilden sich, die neue Strukturen bilden. Eine Art künstliche Mehrdimensionalität ist erkennbar, fast so, wie man sie auch von den Op-Art-Kunstwerken von Carlos Cruz-Diez kennt, die gerade im Museum ausgestellt werden.

Und tatsächlich: Die Regisseurin des Abends, Natascha Ursuliak, projiziert Bilder des Venezulaners in die Filmaufnahme hinein, lässt Kugeln tanzen, lange farbige Striche schimmern, während die Kamera Kuusisto schwindelerregend umkreist. Gleichzeitig rasen Lichteffekte über die große Längswand. Eine multimediale Traumwelt entwickelt sich, ein Gesamtkunstwerk, Kunst zum Hören und Musik zum Sehen. Ein ganz ähnlicher Effekt ergibt sich bei Arne Nordheims Werk "Ätherischer Klangrausch", eine kühne Variation auf die Werke Paul Klees, ein verspieltes Experiment mit elektronisch vervielfältigten, überirdisch wirkenden hohen Geigentönen und Pizzicati.

Den Hauptteil des Konzerts im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte bestreitet Kuusisto nicht solistisch, sondern zusammen mit seiner Kollegin Patricia Kopatchinskaja (41). Die gebürtige Moldawierin zählt zu den berühmtesten Geigerinnen der Welt - und zu den kompliziertesten. Die Auseinandersetzungen, die sie mit anderen Künstlern hatte, sind geradezu legendär. Auch wenn das kaum zu glauben ist, wenn man der Geigerin gegenübersitzt und sie mit mädchenhaft-unschuldigem Lachen sagt: "Ich bin eigentlich ein unkomplizierter Mensch." Kuusisto hat vorher betont, wie gerne er mit ihr auftreten würde. Aber er sagte auch: "Die Arbeit mit ihr gehört zu diesen Erlebnissen, in denen man so emotionalisiert ist, dass man glaubt, wenn es nicht richtig klappt, dass das eigene Leben kollabiert." Und wenn alles funktioniert? "Dann fühlt sich das an, als wenn wir ein Land betreten, das nur uns gehört." Kopatchinskaja schwärmt ähnlich: "Es ist ein Traum. Es ist, als wenn ich mit mir selber spielen würde. Ich habe keine Lust mit einem anderen Geiger zu spielen." Sie gibt zu, dass sie extrem wählerisch bei der Auswahl ihrer musikalischen Partner ist. "Es ist wie die Auswahl eines Lebenspartners. Es geschieht auf einer so sensitiven Ebene. Auch die kleinste Ablehnung empfinde ich als eine ganz persönliche Verletzung. Es braucht Menschen, die sich zusammen opfern."

So übersteigert wie die Vorstellungen vom Musizieren, so extrem sind auch die Auftritte von Patricia Kopatschinskaja. Wenn sie auf der Bühne steht, dann spürt man, dass sie - so klischeehaft das auch klingen mag - mit jedem Ton um ihr Leben spielt. In ihren besten Konzerten gehen die Besucher aus dem Konzert heraus und haben das Gefühl, eine tiefe existenzielle Erfahrung gemacht zu haben.

Beim Konzert im Museum treten Kuusisto und Kopatchinskaja in Cruz-Diez' Farblabyrinth. Sie interpretieren eine Sonate von Jean-Marie Leclaire, ein Barockmeister wie viele, seine Stücke sind eigentlich Unterhaltungsmusik. Aber: Nicht, wenn Kopatchinskaja dabei ist. Die beiden behandeln die Geige völlig anders, als man es je sonst hört. Sicher, oberflächlich betrachtet entstammen sie der Originalklang-Tradition, sie versuchen, mit ihren modernen Instrumenten den Darmsaiten-Klang des 18. Jahrhunderts zu imitieren. So musizieren sie leise, weitgehend ohne Vibrato, mit expressiver Klangrede.

Aber es ist kaum vorstellbar, dass diese Musik im 18. Jahrhundert so geklungen haben kann. Dazu spielen die beiden zu überspannt, zu extrem. Der Originalklang ist nur Tarnung, eigentlich entsteht eine völlig neue Ästhetik, die viel mehr mit der Moderne zu tun hat als mit der Historie. Aus den kleinsten Wendungen werden Ereignisse, fahle Klänge, ruppige Ausbrüche, hauchfeine Töne wie lange magere Fäden. Satzenden, die fast schon kratzen. Und immer wieder sind ganz kurze Töne zu hören: Die Barocksonate als perkussives Erlebnis. Während Kuusisto relativ ruhige und gerade Töne seiner Geige entlockt, ist sie radikaler, die Phrasierung noch prägnanter, das Vibrato plötzlich noch forcierter, der Witz noch durchschlagender. Sie spielen gut zusammen, kein Zweifel, aber sie sind unterschiedlich, auch unterschiedlich gut.

Später gehen sie in den zweiten Stock und spielen weitere Werke: einen Satz aus einer Prokofjew-Sonate voller motorischer Intensität, die wieder besonders eindrucksvoll bei Kopatchinskaja klingt, obwohl sie, wie den gesamten Abend über, nur die zweite Geigenstimme übernommen hat. Dann Renaissance-Musik von Orlando Gibbons, ein volkstümliches Frühwerk von György Ligeti und am Ende einige einfache Stück von Béla Bartók. Die Werke sind plakativ, sie werden von einer einzigen Idee getragen, die meist schon im Titel formuliert ist: "Dudelsack", "Arabischer Gesang" oder "Pizzicato". Die beiden wirken glücklich. Lächelnd jonglieren sie mit den Motiven. Kopatchinskajas Augen blitzen, sie duckt sich und verstellt sich, als wäre sie eine Schauspielerin. Und ihre Töne klingen auf einmal noch prägnanter. Am Ende umarmen sie sich.

Das Publikum geht ins Erdgeschoss, trinkt noch etwas, unterhält sich. Dort steht Patricia Kopatchinskaja. Allein. Sie wirkt matt, erschöpft, ausgelaugt. Müde lächelt sie. "Es gab für mich noch nie leichte Konzerte", sagt sie und geht.

Jesko Schulze-Reimpell