Kunst mit Weitblick

Kommentar

11.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:58 Uhr

"Ignoranz ist eine Tugend" wispert eine Stimme diabolisch. Minutenlang. Immer wieder. Eine kleine Gehirnwäsche, ein Einflüsterer? Auf der documenta 14 ist die Performance des US-amerikanischen Künstlers Pope L. auf dem zentralen Friedrichsplatz in Kassel Ironie, Provokation, aber auch Mahnung. Denn für Millionen von Menschen ist der Satz erschreckenderweise gelebte Realität, eine Entschuldigung für ihr Desinteresse am Anderen, am Fremden, am Neuen, am toleranten Miteinander.

Die Anhänger dieser falschen Weisheit - allen voran der US-amerikanische Präsident Donald Trump oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, aber auch die Vertreter und Anhänger rechtspopulistischer Parteien in Deutschland - setzen auf vereinfachte Wahrheiten. Die populistischen Meinungsmacher, die Verfechter der Fake News, propagieren dieses Credo "Ignoranz ist eine Tugend" täglich. Für sich selbst und für all diejenigen, die hinter jeder Meldung, die sie nicht verstehen, hinter jedem Zusammenhang, der nicht in ihr Weltbild passt, eine Verschwörung, eine Bedrohung wittern.

Wie gut, dass es die Kunst gibt. Wie gut, dass die Kunst gefördert wird, dass sie kritisch sein darf, dass Künstler hierzulande keine Repressalien zu befürchten haben. Das ist ein hohes Gut. Die documenta 14 ist in ihrem politischen Anspruch, in der weltumfassenden Vielfalt ein Appell an alle, sich der Welt in ihrer globalen Differenziertheit aber auch in ihrem gemeinsamen Anspruch an Toleranz und Miteinander zuzuwenden. Künstler von China bis in die USA, vom Senegal bis nach Kambodscha plädieren für eine Welt, in der es um Menschenrechte statt um puren Kapitalismus, um Nischen statt um Mainstream, um Weitblick statt um Engstirnigkeit geht. Ignoranz ist keine Tugend.