München
Künstlerischer Voyeurismus, zügellose Neugier

Die französische Künstlerin Sophie Calle zeigt im Espace Louis Vuitton in München zwei umfangreiche Werkgruppen

03.01.2019 | Stand 23.09.2023, 5:32 Uhr
Joachim Goetz

München (DK) Strafanzeige würde so mancher Betroffene heute wahrscheinlich stellen.

Denn die französische Künstlerin Sophie Calle dringt in ihrer derzeit im 370 Quadratmeter großen Espace Louis Vuitton am Münchner Max-Joseph-Platz gezeigten Arbeit "L'Hotel" von 1981 ungeniert, ungefragt und ohne irgendeine Genehmigung in die Intimsphäre wildfremder Menschen ein. Die Methode erinnert an Geheimdienste, Spionage, Detektivarbeit - oder ungebremste Neugier gepaart mit frechem Voyeurismus.

Denn die 1953 in Paris geborene Calle, die heute als eine der bedeutendsten zeitgenössischen Künstlerinnen Frankreichs gilt, ließ sich damals für drei Wochen als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel anstellen, betreute dort 12 Zimmer - und beschreibt ihr (zunächst heimliches) künstlerisches Tun so: "Während der Reinigung der Zimmer beobachtete ich die verschiedenen Leben, die mir fremd blieben, ganz genau. "

Das heißt, sie inspizierte die im Zimmer gebliebenen Taschen, die Kleidungsstücke, durchwühlte die Schränke und Toilettenartikel. Sie las herumliegende Briefe und Aufzeichnungen, fotografierte die Betten und die vorgefundenen Gegenstände in der Art einer Tatortfotografie. Ziemlich frech.

Die spätere Präsentation der als Diptychen organisierten "Observationen" - in München sind sechs davon zu sehen - folgt einem strengen formalen Muster. Oben: ein Farbfoto des Bettes vor der Zimmerwand, die meist mit Blümchentapete tapeziert ist. Darunter ein Text mit Beobachtungen und subtil vermittelten Deutungen. Das untere Tableau ist neun gleich großen Fotografien vorbehalten, die die aufgenommenen Gegenstände sozusagen wie Asservate zeigen.

Zwar erfährt man an keiner Stelle, wer die Menschen wirklich sind. Aber durch die Bestandsaufnahme der Dinge und die Kommentare entwickelt sich ein Porträt der jeweiligen Gäste - wahrscheinlich nicht nur in der überbordenden Fantasie der Künstlerin. So ist sie etwa einem zumindest lesbischen (wenn nicht polyamourösen) Paar auf der Spur. Auch ein Mann mit diversen Affären zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Oder die beiden von "Zimmer 29": Calle belauscht den Streit eines französisch sprechenden Paars, begutachtet die Ausweise, Aktenmappen, Visitenkarten - und schildert uns eine pikante Situation. In welcher ein "ausgesprochen gut aussehender" 1,80 Meter großer Marokkaner im besten Alter mit seiner deutlich älteren, "extrem geschminkten", 1,66 Meter großen blonden Freundin, die Betreiberin eines Pariser Cafés ist, um den Kauf einer Wohnung an der Seine streitet. Sie möchte ihm eine Studiowohnung kaufen, mit der er offensichtlich nicht so richtig zufrieden ist. Den Rest kann man sich ausmalen - auch ein Anliegen der Künstlerin.

Sie macht den Betrachter raffiniert zum Komplizen ihres Voyeurismus, lässt ihn gemeinsam mit ihr ebenfalls unbeobachtet in die Privatsphäre Fremder eindringen. Und das zu Zeiten als sich Trojaner noch bevorzugt in der antiken griechischen Sagenwelt tummelten.

Für die inzwischen 40 Jahre andauernde künstlerische Arbeit von Sophie Calle ist diese Methode, im Grenzgebiet von Fiktion und Autobiografie für anonyme Protagonisten ein Seelenleben und eine Narrativität zu konstruieren, typisch. Genauso wie die mit verspieltem Humor gespickte zügellose und zugleich sezierenden Neugier.

Wesentlich neuer ist das 2011 in Istanbul entstandene Werk "Voir la mer". Obwohl es sich um eine mehrteilige Videoarbeit handelt, ist sie vergleichsweise still. Calle suchte (und fand) Bewohner Istanbuls, die noch nie das Meer gesehen hatten. Sie fuhr mit ihnen ans Meer und filmte deren ozeanische Premiere: Den Rücken zur Kamera, das Gesicht zur See. Nach einiger Zeit - individuell verschieden - drehen sich die Protagonisten um und schauen in die Kamera. Meist emotional tief berührt, aber trotz Taschentuch tapfer mit festem Blick.

Ganz anders die Kinder der Porträtierten, die ebenfalls gezeigt werden: Sie scheren sich wenig um die Erhabenheit des unendlichen Ozeans - sondern tollen nach kurzer Zeit mit langen Hosen ehrfurchtslos lustig im Wasser, spritzen sich gegenseitig nass und haben großen Spaß. Anders als in vielen anderen Arbeiten lässt Calle die ausdrucksvollen Bilder allein für sich sprechen, untermalt nur vom Rauschen des Wassers. Beeindruckend - auch für eine Künstlerin, die über ihr obsessives, irritierendes, intimes Werk sinngemäß nur lapidar sagt: "Ich erzähle Geschichten. "

Espace Louis Vuitton München, Maximilianstraße 2a, bis 24. Februar, Mo bis Fr von 12 bis 19, Sa von 10 bis 19 Uhr. Eintritt frei.

Joachim Goetz