Pfaffenhofen
Korbinian fährt nach Berlin

Familie Lechleuthner überreicht dem Petitionsausschuss des Bundestags am Mittwoch über 54000 Unterschriften

14.05.2021 | Stand 23.09.2023, 18:37 Uhr
Deutschlandweites Medieninteresse hat die Petition der Arztfamilie hervorgerufen. In fünf TV-Beiträgen waren die Niederscheyrer zu sehen. Hier drehen Korbinian (von rechts) und Carmen Lechleuthner mit Gloria Stenzel für das BR-Format "Kontrovers". −Foto: privat

Pfaffenhofen - Das große Finale steigt in Berlin. Für jeden Fußballfan ist das eine Binsenweisheit. Für die Niederscheyrer Arztfamilie Lechleuthner ist allerdings nicht das Pokalfinale im Olympiastadion das große Ziel, das die Eltern Carmen und Thomas zusammen mit ihrem schwerbehinderten Sohn Korbinian anpeilen. Sondern das den meisten eingefleischten Fußballfans wohl eher nichtssagende Paul-Löbe-Haus.

Dieses Gebäude befindet sich mitten im Regierungsviertel, ganz in der Nähe des Reichstags. Drinnen hält der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags seine Sitzungen ab. Genau dort - und zwar am kommenden Mittwoch ab 14.30 Uhr - ertönt für die Lechleuthners der Anpfiff zu ihrem ganz persönlichen Endspiel. "Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerst behinderter Kinder/Erwachsener" haben sie Ende Oktober 2020 ihre Offene Petition getauft, mit der das Mediziner-Ehepaar in den vergangenen sechs Monaten deutschlandweit für Aufsehen sorgte.

Gefrustet vom zähen Kampf mit den Krankenkassen um die Bezahlung der verordneten Hilfsmittel, die der kleine Korbinian für die Teilhabe am Leben dringend benötigt, haben seine Eltern in den Angriffsmodus geschalten. "Die Petition ist für uns auch ein Ventil", räumt Carmen Lechleuthner ein. Sie war aber auch ein Weg, um auf die Notlage vieler Eltern von behinderten Kindern hinzuweisen. Die beiden Ärzte prangern an, dass die Krankenkassen die Übernahme von Hilfsmitteln oftmals pauschal verweigern und teure Gutachten anfordern - den Pflegenden häufig nur der Rechtsweg bleibt, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Vor allem den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), der die Prüfung der Fälle übernimmt, haben die Lechleuthners ins Visier genommen. Sie fordern eine umfassende Reform.

Mehr zum Thema

Für Korbinian: Kampf gegen Blockade der Krankenkassen

Petition von Familie aus Niederscheyern Thema im Bundestag

Patientenwohl und Wirtschaftlichkeit in Einklang bringen

Krankenkassen-Petition: Über 50000 Unterstützer

Mit ihren Anliegen sind die Niederscheyrer nicht lange allein geblieben. Tausende Unterstützer - meist Familien in ähnlichen Situationen - schlossen sich ihnen unmittelbar an. Sage und schreibe 54000 Unterschriften sind bis zum Wochenende zusammengekommen. Und mittlerweile haben die Positionen der Lechleuthners sogar zwei große Verbände übernommen: "Wir! Pflegende Angehörige" und "rehaKIND". Beide sind aktiv in die Kampagne eingestiegen und schicken zur Übergabe der Unterstützerliste sogar eigene Vertreter nach Berlin: Brigitte Bührlein und Jule Heintorf. Rüdiger Krauspe lässt sich das Finale ebenfalls nicht entgehen. Der Ärztliche Direktor der Düsseldorfer Uniklinik ist der Fünfte im Bunde, der das Paul-Löbe-Haus somit an der Seite der Lechleuthners betreten wird. Dieses Quintett - "mehr dürfen angesichts der Coronavorgaben gar nicht rein", erklärt Thomas Lechleuthner - wird die Forderungen dem Petitionsausschuss unterbreiten. In großen Kisten, die auf Rollstühlen ins Gebäude geschoben werden, bringen die Lechleuthners ihre Unterstützerlisten nach Berlin. Politiker aller großen Parteien haben sich angekündigt, um diese in Empfang zu nehmen - und sich den Forderungen zu stellen.

"Die nahende Bundestagswahl könnte uns ein wenig in die Karten spielen", meint Thomas Lechleuthner. Zumindest werde die Kampagne wohl auch aufgrund der zeitlichen Nähe zumindest nicht ignoriert. Haben sich viele Politiker zum Start der Petition noch ablehnend geäußert, stößt der Vorstoß mittlerweile bei immer mehr Parteien auf offene Ohren. "Neben den Grünen interessieren sich auch die SPD und die FDP sehr für unsere Anliegen", erzählt Carmen Lechleuthner. Lediglich die Unionspolitiker lassen wenig Interesse durchschimmern. "Aber zumindest wird auch von CDU und CSU jemand bei der Übergabe dabei sein", sagt Carmen Lechleuthner. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurde ebenso eingeladen wie SPD-Sozialminister Hubertus Heil. "Aber dass die persönlich kommen, glaube ich dann doch nicht", meint sie.

Völlig ausgeschlossen ist es aber dann auch wieder nicht, dass Spahn vorbeischaut. Denn die Lechleuthners haben mit ihrer Petition tatsächlich in der ganzen Republik für Wirbel gesorgt. Fünfmal waren sie mit längeren Beiträgen im Fernsehen. "Teilweise haben sich die Dreharbeiten über mehrere Tage hingezogen", berichtet Thomas Lechleuthner. Im Radio war viel von ihnen zu hören. Und Printmedien aus der ganzen Republik haben ihnen Platz eingeräumt.

Geht es nach den Medizinern aus Niederscheyern, ist die ganze Bewegung überfällig gewesen. Es geht ihnen ums Aufrütteln der Menschen. Ums Aufzeigen von Missständen. Und um das Entlarven von Versprechungen, die von der Politik im Sinne der Inklusion vorgegaukelt werden, aber in Wahrheit nur leere Hüllen sind. Skurriles Beispiel, das Thomas Lechleuthner in dem Zusammenhang nennt: Die Bundesregierung hat kürzlich beschlossen, dass alle Geldautomaten barrierefrei umgerüstet werden müssen. "Allerdings erst bis zum Jahr 2040, sowas muss man sich mal vorstellen", ergänzt er. "Und wenn der Weg zu einem Geldautomaten über Stufen führt, dann dürfen diese explizit bleiben." Inklusion und Teilhabe schreiben sich viele Politiker gerne auf die Fahne. "Da werden große Reden geschwungen und Preise ausgelobt. Nur getan wird immer noch viel zu wenig", fügt Carmen Lechleuthner an.

Nur Kritik üben, das ist den Lechleuthners aber zu wenig. Daher nehmen sie konkrete Verbesserungen, die sie für umsetzbar halten, am Mittwoch mit nach Berlin. So sollen Krankenkassen zumindest die von den fachlich schier unantastbaren Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) verordneten Hilfsmittel ohne Prüfung bewilligen müssen. "Das sind absolute Fachleute", sagt Thomas Lechleuthner. "Die liegen eigentlich immer richtig." Hier zu prüfen und weitere Gutachten anzufordern, sei vergeudetes Geld. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich da etwas einsparen lässt. Im Gegenteil: Hier kosten die Prüfungen und Gutachten vermutlich weit mehr Geld als sich theoretisch einsparen lässt. Aber auch eine Änderung des Sozialgesetzbuchs regen die Lechleuthners an: um die Bearbeitungszeit der Krankenkassen zu begrenzen. "Auf fünf Wochen. Das ist in unseren Augen ein Muss", sagen die Ärzte. Weniger Begutachtung durch den MDK ist ein weiteres Hauptziel der Petition. "Und wenn es sein muss, dann niemals nach Aktenlage, sondern immer persönlich und fachgebunden."

Eines verstehen die Eheleute angesichts der zögerlichen Bereitstellung vieler Hilfsmittel bis heute nicht. "Einen Missbrauch gibt es da doch kaum", meint Thomas Lechleuthner. Die Hilfsmittel bleiben meist im Besitz der Krankenkassen und werden nur ausgeliehen. Und: "Es gibt doch niemanden, der einen orthopädischen Stuhl bei Ebay vertickt", fügt er an. "Wer würde sowas kaufen? Der sieht nicht schön aus und keiner kann ihn brauchen, der nicht selbst behindert ist."

Vielleicht bekommt er auf solche Fragen am Mittwoch eine Antwort. Beim Finale in Berlin, dem die Lechleuthners längst nicht mehr allein entgegenfiebern. Denn die Zahl ihrer Unterstützter, sie wächst seit dem Erreichen der 50000er-Marke immer weiter. "Und unser Weg", so versichert Carmen Lechleuthner, "ist nach der Übergabe nicht vorbei." Als Versprechen in Richtung ihrer Unterstützer, das bei anderen wohl eher wie eine Drohung ankommen wird.

PK

Patrick Ermert