Konkrete Objekte der Begierde

16.09.2007 | Stand 03.12.2020, 6:29 Uhr

"Schöner Hupen": Wolfgang Berger liest im Museum mobile Gedichte rund ums Automobil.

Ingolstadt (DK) Tiefsinnige Lesungen, Fahrten in historischen Bussen und Flüge im Heißluftballon. Dazu leckere Häppchen, Piroggen oder ein Glas Sekt: Die zehnte Ingolstädter Nacht der Museen entwickelte sich zu einer fröhlichen Party, die erst am Sonntagmittag bei strahlendem Sonnenschein im Bauerngerätemuseum Hundszell ausklang. [Bilder]

Über 2300 Besucher – mehr als im vergangenen Jahr – kamen zum Jubiläum und schlugen sich mit Swing, Jazz oder Opernarien die Nacht um die Ohren. Auch unsere Mitarbeiterin Karin Derstroff und unsere Redakteurin Erika Pfeiffer feierten mit und ließen sich von einem Schauspiel zum nächsten Happening treiben.

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18.30 Uhr:

Museum mobile:

(ika) Der Abend ist lau, der Einstieg in den Sportflitzer vielversprechend: Denn wer im ausgestellten Audi Rallye quattro A2 Platz nimmt, kann einen Ballonflug über der Piazza gewinnen. Man müsste nur die Motorengeräusche von fünf Rennwagen per Kopfhörer erkennen. Und während draußen der Ballon das erste Mal mit drei männlichen Akustik-Experten ins Abendrot entschwebt, scheitere ich kläglich am nicht erkannten Röhren des Auto Union Typ C Grand Prix von 1936. Gute Laune im Foyer verbreitet derweil schon die Band Jazz Romances. An die 100 Füße wippen mit, wenn Saxofonist Lembit Saarsalu das Cabrio-Lied "On The Sunny Side Of The Street" bläst. Zwischen den mitreißenden Songs unterhält Schauspieler Wolfgang Berger – stilecht mit Oldtimerbrille und Lederkappe – mit launigen Gedichten und Bonmots rund ums Automobil. Für den Uli-Stein-Witz "Den muss ich haben, roste es, was es wolle" gibt es lauten Applaus. Auch die frisch von Köchen zubereiteten Sandwiches sind lecker. Die Nacht fängt gut an . . .

19 Uhr:

Heinrich-Stiefel-Schulmuseum:

(ksd) "Sieh einmal, hier steht er": Genau, da steht er. Lebensecht, mit gelben Korkenzieherhaaren, bereit, gegen Obolus Auskunft zu geben. Aber Pech gehabt, Luzie, die du den Struwwelpeter spielst! Ich habe schon im Erdgeschoss 20 Cent investiert, um deinen Bilderbuchgenossen – in schönen Kostümen sind Paulinchen, Zappelphillip, Suppenkaspar und die anderen zum lebenden Bild auf dem Podest erstarrt – "eine Minute lang Fragen zur Erziehung im 19. Jahrhundert" zu stellen. Überraschung: Die "MuWis", die für all die vielen Spielszenen und Kurzauftritte dieses abwechslungsreichen Abends verantwortlich sind, meistern die Frage nach dem Unterschied zur Erziehung heute tadellos – und schlauer geht der Gast von dannen. Ganz auf Information, lebendig und interaktiv dargeboten, setzte Museumsleiterin Gabriele Neumaier auf "ihre" Nacht. Bestückte das Museum teilweise neu, arrangierte ein Schulzimmer zur Kaiserzeit oder thematisierte damalige "Schulstrafen" – das probeweise Knien auf Holzscheiten und Erbsen etwa ist der Renner bei den vielen kleinen Besuchern, die mit ihren Eltern durchs Haus wuseln. Die sind auch mal als Tröster gefragt, im proppenvoll besetzten Theatersaal etwa, wo die gespielte Geschichte vom Daumenlutscher bei einem Buben zur Heulattacke führt, während ein anderer beim "Suppenkaspar" laut versichert: "Aber ich esse doch meine Suppe immer!" Bei der Lesung mit Wolfgang Krebs mit Texten von Benn, Brecht und Co zu ihrer eigenen Schulerfahrungen schläft der junge Theatergast hoffentlich schon friedlich zu Hause, und der unversehrte Daumenlutscher und der Rest der MuWis sitzen zu des Schauspielers Füßen und lauschen so intensiv wie die Erwachsenen. Führungen, ein Film, Mitmachaktionen: Spannend, sinnlich, super ist’s im Schulmuseum!

20.30 Uhr:

Lechner Museum:

(ksd) Das "Kreissegment" vor dem Museum, 20 Tonnen schwer, verbinden die Blech(!)bläser von "Trombones Cup" mit "Bewegung". Und das heißt musikalisch: Schräge, tiefe Töne, irgendwo zwischen Bayernwalzer und 12-Ton-Musik. Zur Führung mit Marie Luise Goerke wälzen sich die Band und rund hundert Gäste von draußen nach drinnen, von unten nach oben, an des Großmeisters "Bizarren Flächen" vorbei. Es gibt Obst und Getränke, Gespräche und obligatorisches Nicken – wie immer ist "Lechner" ein Muss für intellektuelle Museumsgänger.

21 Uhr:

Galerie Mariette Haas

(ika) Vor der Galerie im Tillyhaus steht eine Handvoll Jugendlicher und blickt stirnrunzelnd auf die angestrahlte Fassade des Studentenwohnheims gegenüber. "Passiert da jetzt noch was" Die an die Wand projizierte Lichtinstallation von Detlef Hartung zeigt in unzähligen Wiederholungen das Wort "Entfernt". "Schauen Sie doch genau hin!", beantwortet der Kölner Künstler selbst die Frage und fordert dazu auf, sich dem blendenden Feld zu nähern. Nach minutenlangem Starren geht einem ein Licht auf: Da ist ja auch das Wort "Ernten" erkennbar. Aber bevor man noch länger über raffinierte Wortspiele sinnieren kann, erntet im dichten Gedränge der Galerie der Ingolstädter Künstler Ben Muthofer verdienten Applaus für seinen Farbflächenfilm.

21.30 Uhr:

Deutsches Medizinhistorisches Museum:

(ika) Die Alzheimer-Krankheit geht uns alle an. Diesen Eindruck hat man zumindest in der Alten Anatomie. Hunderte Besucher drängen sich um Vitrinen mit Hirnschnitt-Präparaten oder Zellkulturen und betrachten die Fotodokumentation von Patienten aus dem Ingolstädter Danuvius-Haus. Im barocken Hörsaal unter dem herrlichen Deckenfresko sind schon eine Viertelstunde vor Beginn der szenischen Lesung aus der "Akte Auguste D." alle Plätze besetzt. 1906 diagnostizierte der Arzt Alois Alzheimer (Schauspieler Stefan Schön) an der Patientin Auguste Deter (gut: Claudia Sauermann) erstmals die Demenzerkrankung. Sätze von Auguste wie "Ich habe mich sozusagen verloren" gehen einem nahe.

21.45 Uhr:

xhoch4:

(ksd) Das ist natürlich keine Zeit für junges Volk! In der Reithalle im Klenzepark – die derzeit eine spannende Ausstellung junger Kunst präsentiert – herrscht gähnende Leere. Kein Problem! "Unsere Leute kommen doch immer erst nach Mitternacht", berichten xhoch4?-Mitglied Christian Bolza und Designstudentin Helena Papendick. Eine Erfahrung aus den letzten Jahren, weil die Gäste warten, bis "wir frei sind von der Nacht der Museen". Und dann: "Ist die Hölle los!" Die ist mir – der Zeitplan ruft – heute nicht beschieden. "Aber nimm dir wenigstens ein Plakat mit", tröstet Bolza. Köstliche Erfahrung, mit über 40 wieder mal normal geduzt zu werden!

22 Uhr:

Stadtmuseum

(ksd) Ein einsamer Römer sitzt neben drei verlassenen Schilden vor dem Eingang, einen grundfalschen Eindruck vermittelnd. Denn drinnen ging’s rund und tut es noch. Eine strahlende Museumleiterin berichtet von einem Ansturm wie selten zuvor, und das Schönste: "Die Leute kommen nicht nur zum Programm, sondern schauen sich intensiv das Museum an!", sagt Beatrix Schönewald. Stimmt: Noch um Mitternacht, zu einer Zeit, wo der Bauch wohlig gefüllt ist von den Köstlichkeiten, die Markus Werthner im Kronensaal zu Minipreisen und Maxireden serviert, schlendern Gäste von Vitrine zu Vitrine. Und richtiggehend überfüllt ist es im Barocksaal. Zwar hat sich die dreiteilige "Revue" mangels gemeinsamer Probemöglichkeiten in Lese- und Musikblöcke getrennt, aber das tut der Sache zum großen Abend-Thema "Zeit" keinen Abbruch. Witzig sind die Schlager aus den 20ern, die Tenor Reinhold Rückerl zu Matthias Leitners Klavierbegleitung singt. Und spannend ist die Collage aus Lyrik, Tagebuchauszügen, Zeitungsartikeln, die Sascha Römisch und Ellen Brugger zu erklärenden Texten von Moderator Gerald Huber lesen. Ernsthafteste Geschichte, Teil 2, 1871 bis 1945. Mit Zeit durch die Zeiten gehen, das kann man im Stadtmuseum an diesem Abend ausgesprochen gut.

23.45 Uhr:

Museum für Konkrete Kunst:

(ika) Es ist heiß und sehr voll. An den Balustraden ist keine Lücke mehr frei. Die schmissige Tarantella – am Klavier Natalia Pegarkova – ist gerade verklungen, jetzt sind alle Blicke auf die Museumstreppe gerichtet. Und dann kommt sie, die erwartete Braut. Nur dass diese im eng anliegenden schwarz-glänzenden Abendkleid erscheint, mit silbrigem Augenaufschlag, den meterlangen Schleier hinter sich herziehend. Tobender Applaus für die finale Überraschung der Modeschöpferin. Und ein Blumenstrauß von Museumsleiter Tobias Hoffmann. – Wie jedes Jahr ist die Vorführung von Beate Bonks Winterkollektion der bestbesuchte Termin der langen Nacht. Ein Muss für Ingolstadts Schöne und Reiche, ein Sehen und Gesehenwerden, bei dem sich die Herren mit der schwarzen Eintrittskarte Luft zufächeln und alle Damen diesen ähnlichen abschätzenden Blick haben. Würde mir dieser nachtblaue Hosenanzug passen, der hinreißende Leopardenhut mit Feder, dieses graue Woll-Bouclé-Jäckchen?Die sechs Models beherrschen den auf- und absteigenden Catwalk perfekt, während die Sopranistin Aukse-Marija Petroni mit Opernarien aus Puccinis "Tosca" die Spannung hochhält. Es ist Mitternacht, aber ans Heimgehen denkt hier keiner. Vorm Museum ist es noch nicht zu kühl für ein weiteres Gläschen Sekt bei Kerzenschein. Die Gespräche drehen sich fast ausschließlich um die konkreten Objekte der Begierde aus der Winterkollektion.