Ingolstadt
Kleiner Umzug, große Folgen

Neuer Praxisstandort 100 Meter weiter – AOK kündigt rund 400 Hausarztverträge

02.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:35 Uhr

Von hier nach da: Der Internist und Hausarzt Rainer Frey zeigt, dass die Gemeinschaftspraxis Am Pulverl von der Hausnummer 1 in die Hausnummer 5 gezogen ist. Der Zugang für Gehbehinderte hier ist deutlich leichter. Doch jetzt gibt es Ärger mit der AOK - Foto: oh

Ingolstadt (DK) „Das ist wirklich ein Schergenstück“, schimpft Rainer Frey. Der Hausarzt und Internist, der mit zwei Kollegen Am Pulverl eine Gemeinschaftspraxis betreibt, ist stinksauer. Die Praxis ist umgezogen – nur 100 Meter weiter. Die AOK hat rund 400 Patienten deswegen die Hausarztverträge gekündigt.

Bislang lautete die Adresse der Gemeinschaftspraxis Am Pulverl 1. Seit Kurzem heißt sie Am Pulverl 5. Selbe Straße, selbe Straßenseite, nur zwei Häuser weiter. Die Räume hier sind nicht nur freundlicher und heller, sondern vor allem besser für Gehbehinderte zugänglich, was beim Durchschnittsalter seiner Patienten (zwischen 60 und 70 Jahre) immer wichtiger werde. „Früher“, erzählt Frey, „mussten Rollstuhlfahrer im Gang warten“. Das Wartezimmer war zu klein. Auch der Aufzug war für Patienten mit Rollstuhl extrem eng.

Die Verunsicherung vor allem bei älteren Patienten ist groß. „Eine Dame kam mit wässerigen Augen mit dem Schreiben der Kasse in der Hand in die Praxis und glaubte, dass wir sie nicht mehr behandeln wollen“, erzählt Frey. Grund für die Aufregung: Die AOK Bayern hat den Umzug zum Anlass genommen, allen AOK-Patienten der Gemeinschaftspraxis, die sich fürs Hausarztmodell eingeschrieben haben, die Verträge zu kündigen. „Bei einer Praxisverlegung endet grundsätzlich die Teilnahme von Versicherten an der besonderen hausarztzentrierten Versorgung, dem sogenannten Hausarztvertrag – das ist eindeutig geregelt“, begründet Ulrich Resch, Direktor der Direktion Ingolstadt der AOK Bayern, den Vorgang. Für die Versicherten sei jedoch „in jedem Fall die allgemeine hausärztliche Versorgung uneingeschränkt sichergestellt“.

„Ich fühle mich belogen“, sagt Norbert Lehner (54) aus Ingolstadt. Als Konsequenz will er nun seine Krankenkasse wechseln. In dem Schreiben, in dem die AOK seinen Hausarztvertrag gekündigt hat, habe es geheißen, für ihn als Versicherten ändere sich nichts. Es laufe alles weiter wie bisher. Dass dem nicht so ist, erfuhr Lehner im Gespräch mit seinem Hausarzt. Denn durch den Vertrag bekommen die Patienten einige Zusatzleistungen – ein erweitertes Labor etwa, oder Ultraschalluntersuchungen. Der Arzt erhält im Gegenzug eine kontaktunabhängige Strukturpauschale für jeden eingeschriebenen Patienten und diverse weitere Pauschalen, etwa für chronisch Kranke. Ohne Hausarztvertrag wird die Behandlung mit einer Fallpauschale von 35 Euro im Quartal vergütet – egal, wie oft der Patient die Praxis aufsucht.

Für den Arzt sind die Verträge finanziell durchaus lukrativ. Doch unterm Strich sparen auch die Kassen durch die hausarztzentrierte Versorgung Geld, sagt Torsten Fricke, Sprecher des Bayerischen Hausärzteverbandes. Das Grundprinzip des Hausärztevertrages ist politisch gewollt: Der Patient geht erst zum Hausarzt und wird bei Bedarf zum Facharzt überwiesen. Das käme den Kassen billiger, als wenn Patienten ungesteuert oft gleich mehrere Fachärzte aufsuchten, betont Fricke.

Doch zwischen der AOK Bayern und den Ärzten ist um das Vertragswerk ein Streit entbrannt. Die AOK hat den Vertrag einseitig gekündigt. Eine Einigung ist in greifbarer Nähe. Doch bis es wieder einen gültigen Hausarztvertrag gibt, können keine neuen Verträge abgeschlossen werden. Die alten haben Bestand.

Doch die AOK nutzt Schlupflöcher, um bestehende Verträge auszuhebeln – wie das Beispiel der Praxis Am Pulverl zeigt. Die Kasse, betont der Sprecher des Bayerischen Hausärzteverbandes, nutze einen Passus im Kleingedruckten, „um den Vertrag zu torpedieren“. Es handele sich um eine „Kann-Regelung“, erklärt Fricke. Der entsprechende Satz habe den Ausstieg ermöglichen sollen, falls beispielsweise ein Arzt von Würzburg nach München ziehe. Rein rechtlich ist die Kündigung der Verträge von Freys Patienten kaum angreifbar. „Doch die AOK bestraft damit ihre Versicherten.“

Hugo Schruefer aus Manching ist seit vielen Jahren bei Rainer Frey in Behandlung. „Ich bin sehr zufrieden“, sagt er über seinen Arzt. Das Zeugnis, das der 60-Jährige seiner Krankenkasse ausstellt, ist weniger gut: „Die werden immer spitzfindiger und hinterlistiger.“ Vor einem halben Jahr habe er schon mal ein Schreiben bekommen. Die Kasse hatte darin darüber informiert, dass die AOK den Hausarztvertrag gekündigt habe, bestehende Verträge jedoch bis zu einem neuen Abschluss weiterliefen. Dem Schreiben war ein Zettel beigelegt, in dem der Versicherte der weiteren Teilnahme widersprechen konnte. Hätte er hier unterschrieben, wäre Schruefer schon damals aus dem Hausarztmodell herausgefallen – obwohl er das eigentlich gar nicht wollte.