Ingolstadt
Klangrausch im Ingolstädter Festsaal

Die Sommerkonzerte beschäftigen sich mit Heimat - und laden dazu das Philharmonia Orchestra ein

18.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:45 Uhr
Finnisches Dirigentenwunder: Santtu-Matias Rouvali im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Das dritte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow beginnt schlicht und leise, als wäre es von Mozart. Die Melodie ist so einfach, dass sie mühelos gesungen werden kann, sie umfasst anfangs kaum mehr als fünf Töne. Der Grundton D wird angeschlagen, dann gleiten vom F zwei Töne herab und kurz darauf vom Des wieder nach oben - eine wiegende Melodie, milder Spannungsaufbau und Entspannung. Inniger kann man ein Klavierkonzert, das zu den kolossalen Virtuosen-Schlachtrössern zählt, nicht beginnen.

Ist diese liedhaft schöne Melodie nun der Sound der Heimat? Ist das russische Folklore, ein Volkslied? Die Sehnsuchtsmusik über einen verlorenen Ort? Nichts dergleichen. Rachmaninow hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er kein russisches Volkslied vertont hat. Und: Das Klavierkonzert ist 1909 komponiert, Jahrzehnte bevor er seine Heimat verlassen musste und in die USA emigrierte, wo er nie wirklich heimisch wurde.

Ähnlich steht es mit dem zweiten großen Werk, das das Philharmonia Orchestra bei seinem Gastspiel in Ingolstadt unter dem Titel "Heimat und Exil" im Ingolstädter Festsaal aufführte: die zweite Sinfonie von Jean Sibelius. Gerade das monumentale Finale wurde Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder als nationalfinnische Befreiungsmusik begriffen, als Dokument des Widerstands gegen die russische Fremdherrschaft. Aber Sibelius, der sich eher als internationaler Komponist empfand, der an Bruckner und Wagner anknüpfen wollte und neue sinfonische Konstruktionsprinzipien erforschte, dachte sicherlich kaum an Heimatromantik.

Das Thema Heimat ist schwierig zu fassen. Es klebt unweigerlich an den Notenzeilen, zarte Anklänge an Volksmelodien schwingen mit im großen Orchestersound, aber sie sind nur mühsam festzumachen. Dennoch ist Musik der Heimat letztlich unvermeidlich, man wird sie so schwer los wie die Dialektfärbung aus der Sprache.

So geht das Programm ein wenig am Thema Heimat vorbei. Da hilft auch die Auswahl der Solisten kaum weiter. Sicher, der Pianist Nikolai Lugansky ist Russe. Aber sehr viel heimatlicher klingt das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow deswegen nicht unbedingt. Lugansky ist zweifellos ein fast idealer Interpret dieses Konzerts - vom ersten melancholischen Thema an, das er mit trunken machender Schönheit formuliert, über die große Kadenz, in der er die Akkorde explodieren lässt und schließlich zum Finale mit seiner überbordenden Schlusssteigerung. Es lässt sich nichts gegen eine solche Interpretation vorbringen. Außer vielleicht, dass Lugansky inzwischen fast schon zu routiniert die gigantische Klavierschlacht angeht. Seine Stilsicherheit ist in jeder Zeile spürbar. Lugansky macht einfach alles richtig. Aber das macht ihn auch ein wenig zum Mann ohne Eigenschaft. Da sehnt man sich manchmal nach den Ecken und Kanten anderer Interpreten: nach dem wilden Drive einer Martha Argerich, nach der Melodien-Idiomatik eines Vladimir Horowitz. Oder nach der Kälte, Härte und Sachlichkeit, mit der Rachmaninow selbst sein Konzert gespielt hat. Aber all das ist Mäkeln auf hohem Niveau. Und es ist fast schon vergessen, wenn die letzten Takte des Konzerts erklingen, wenn Lugansky mit raubtierhafter Emphase in die Tasten donnert, wenn er seine letzten Kraftreserven mobilisiert und zusammen mit dem Orchester den ultimativen, rauschhaften Höhepunkt ansteuert.

Dieser fulminante Höhepunkt hat auch viel mit dem Dirigenten des Abends zu tun, mit dem Finnen Santtu-Matias Rouvali. Er leitet das hervorragende Philharmonia Orchestra so, dass man unwillkürlich oft mehr auf ihn achtet als auf den Pianisten. Wie raffiniert er die Akkorde mischt, wie subtil er in den Klavierklang ein Klarinetten- oder Fagottsolo integriert, mit welch sinnlichem Tonfall er den langsamen Satz beginnt, ist einfach grandios. Und wie er in den letzten Takten des Finales auf alle edle Zurückhaltung pfeift, das Orchester zu einem brachialen Höhepunkt anstachelt, ohne darauf zu achten, dass die Trompeten vor Inbrunst inzwischen viel zu hoch intonieren, ist ganz großes Gefühlskino.

Zuvor schon hatte Rouvali Eindruck gemacht mit Michail Glinkas Ouvertüre zu "Ruslan und Ludmilla". Rouvali schlug ein schier atemberaubendes Tempo an, dirigierte agil und mit elektrisierender Energie. Da spielte es auch fast keine Rolle, dass die Streicherbewegungen für den Saal eigentlich viel zu schnell waren und die Artikulation im Nachhall der Saalakustik unterging.

In wirklich heimatlichen Gefilden befindet sich Rouvali dann bei Sibelius' zweiter Sinfonie. Das gigantische Werk ist nicht leicht zu nehmen. Themen werden immer wieder angerissen, entwickeln sich eine Weile und reißen dann ab. Pausen zergliedern und zerstören einen einheitlichen Ablauf, bis im Schlusssatz die Motive in einem monumentalen Finale kulminieren. Aber Rouvali möchte kein Dokument der inneren Zerrissenheit dirigieren. Von Anfang an wählt er flüssige Tempi, versucht, Zusammenhänge aufzuzeigen, Strukturen sichtbar zu machen. Selbst beim grandiosen Finale, in dem die Bläser bis zur Schmerzgrenze aufdrehen, tänzelt er noch auf der Bühne, differenziert, bietet Instrumentengruppen Entfaltungsraum, steuert geschickt das marschartige Geschehen bis hin zum orkanartigen Kraftausbruch. Jubelnder Beifall des Publikums für den hochbegabten Dirigenten. Der bedankt sich sehr subtil mit verführerischer finnischer Nationalmusik: "Valse triste" von Sibelius.

Jesko Schulze-Reimpell