Ingolstadt
"Katholisch geprägtes Einzugsgebiet"

10.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:03 Uhr
Paragraf 219a regelt, wie Ärzte über Abtreibungen informieren dürfen. −Foto: Jens Büttner

Ingolstadt (DK) Eine ungewollte Schwangerschaft stellt das Leben einer Frau auf den Kopf. Wer sich für eine Abtreibung entscheidet, findet oft schwer einen Arzt, der diesen Eingriff durchführt. Dabei soll eine neue Liste der Bundesärztekammer helfen, die alle Medizinerinnen und Mediziner in Deutschland auflistet, die Abbrüche vornehmen. Doch ganz Süddeutschland - und damit auch die Region - ist auf dieser Auflistung nicht vertreten. Ein Erklärungsversuch.

Die Liste beinhaltet den Name, die Adresse, eine Telefonnummer und ein kleines Häkchen bei "operativ" und/oder "medikamentös": Anfang August veröffentlichte die Bundesärztekammer eine Auflistung von Medizinerinnen und Medizinern, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Diese Liste ist Teil der Überarbeitung des umstrittenen Paragrafen 219 a StGB Anfang des Jahres - Stichwort "Werbeverbot" für Abtreibungen. Doch das Wort "bundesweit" ist bei dieser Liste noch nicht allzu wörtlich zu nehmen: Denn südlich von Frankfurt sind keine Ärzte genannt. Die meisten Mediziner geben als Standort Berlin oder Hamburg an. Der Rest von Deutschland - und damit auch die Region - bleiben in diesem Dokument ein weißer Fleck. 

Kein einziger Arzt in Ingolstadt nimmt Abtreibungen vor

Das hat mehrere Gründe. Regional ist eigentlich nur einer davon. Das grundlegende Problem ist laut Eva Sindram von der Schwangeren-Beratungsstelle pro familia in Ingolstadt: Im ersten Schritt brauchen die Mediziner eine Zulassung, um Schwangerschaftsabbrüche durchführen zu dürfen. Dafür müssen sie nicht nur Patientinnen in einer Praxis betreuen, sondern auch Operationen durchführen können. Und von denjenigen, die diese Zulassung haben, tun es dann nicht viele. Denn hinzu kommt Unsicherheit: Auch trotz der Reform von Paragraf 219 a StGB sind Schwangerschaftsabbrüche für Mediziner grundsätzlich "rechtswidrig aber straffrei", wie es Sindram ausdrückt. Mittlerweile dürfen Gynäkologen zwar angeben, dass sie die Eingriffe vornehmen - wie genau und mit welchen Methoden aber nicht. Wer das als Arzt veröffentlicht, macht sich weiterhin strafbar. Und darüber hinaus fordert es viel Eigeninitiative von Medizinern, sich bezüglich Abtreibungen einzuarbeiten: Denn die Praxis der Eingriffe bei Schwangerschaftsabbrüchen sind meistens kein regulärer Teil der Facharztausbildung, so Sindram. 

Mit jedem dieser Punkte schrumpft augenscheinlich die Zahl der Gynäkologen, die Abtreibungen anbieten. In Zahlen heißt das: 20 Gynäkologie-Praxen gibt es laut Google in Ingolstadt. Viele von ihnen sind  Zusammenschlüsse mehrerer Mediziner. Kein einziger von Ihnen  bietet laut Sindram Schwangerschaftsabbrüche an. "Wenn Frauen bei uns in der Beratung sind, müssen wir sie nach München, Nürnberg oder Augsburg schicken", sagt sie. Das allein ist aber kein Ingolstädter Problem. In ganz Niederbayern gibt es laut Thoralf Fricke vom Landesverband von pro familia nur einen einzigen Arzt - für etwa eine Million Einwohner.

Für die betroffenen Frauen, egal ob in der Region Ingolstadt oder Niederbayern, bedeutet das eine Mehrbelastung. Für einen solchen Eingriff zu einem fremden Mediziner in eine fremde Stadt - und eine Begleitperson finden, die genug Zeit mitbringt.  "Die politische Aussage ist: ,Es gibt ein flächendeckendes Angebot'", sagt Sindram. Doch sie sieht das anders: "Nein, gibt es nicht." 

"Katholisch geprägtes Einzugsgebiet"

Ein Grund dafür, dass so wenige Mediziner auf der Liste stehen, ist also, dass es - wohl auch wegen der komplizierten Rahmenbedingungen - schlicht sehr wenige Ärzte gibt, die Abtreibungen anbieten. Verschärft wird das Problem dadurch, dass es immer noch negative Konsequenzen nach sich ziehen kann, publik zu machen, dass man Abtreibungen anbietet.

Vor der Reform des Paragrafen 219 a StGB war das noch strafbar. Die Frauenärztin Kristina Hänel aus Gießen wurde verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite darauf hinwies, dass sie den Eingriff anbietet. Doch auch nach der Gesetzesänderung kann es offenbar problematisch sein, zu veröffentlichen, dass man Abbrüche vornimmt: "Praxen können nicht nur Imageprobleme bekommen, sondern womöglich stehen dann selbsternannte Lebensschützer vor der Tür, die Patientinnen massiv bedrängen", erklärt Sindram. Und genau da sieht Fricke auch eine mögliche Ursache für den Mangel an Abtreibungs-Ärzten in der Region Ingolstadt. "Ingolstadt hat ein sehr katholisch geprägtes Einzugsgebiet", erklärt er. "Wenn ich Gynäkologe bin und überlege, ob ich Abtreibungen vornehmen will, was dann publik wird, und ich dann eventuell mit fundamentalistischen Konservativen vor meiner Praxis rechnen muss und vielleicht mit Mails und Post bombardiert werde - da stelle ich mir die Frage: Will ich das?" 

Vor der Praxis der Gynäkologin Hänel in Gießen in Hessen fanden offenbar regelmäßig Mahnwachen von Abtreibungsgegnern statt, als bekannt wurde, dass die Ärztin Abtreibungen vornimmt. Auch der niederbayerische Kollege bekam wohl Besuch von sogenannten Lebensschützern. 

"So weiß ist die Landschaft dann auch nicht"

Dementsprechend klar fällt auch Frickes Urteil zur Liste der Bundesärztekammer aus. "Diese Liste ist keine Verbesserung", sagt er. Die Angaben seien zu unvollständig - zum Beisiel, was die Methoden angeht. Zum anderen liste die Bundesärztekammer nicht alle Mediziner auf, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen: "Es gibt in Bayern sehr wenige Ärzte [die Abtreibungen anbieten, Anmerkung der Redaktion], aber so weiß ist die Landschaft dann auch nicht." Seine Meinung: So lange Abtreibung im Strafgesetzbuch vorkomme und Abtreibungsgegner vor Praxen "straffrei Ärzte und Patientinnen ansingen und anbeten dürfen", so lange würden sich wenige Ärzte auf die Liste setzen lassen. 

"Leichter, nicht Position zu beziehen"

Von den angefragten Gynäkologen der Region ist nur eine bereit, über das Thema zu sprechen. Katharina Philippson ist Teil einer großen überörtlichen Gemeinschaftspraxis von Gynäkologinnen und Gynäkologen in Ingolstadt und Manching. Auch sie und ihre Kollegen bieten keine Abbrüche an. Der Hauptgrund für die geringe Zahl an Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, ist für sie "moralischer Natur". "Damit muss man sich identifizieren können", sagt sie. Und auch die Rechtslage spiele eine Rolle: "Ethisch gesehen ist das immer noch eine Tötung." Sie findet es "schade, dass es für Frauen in der Region das Angebot nicht gibt". Dass die neue Liste der Bundesärztekammer mehr Gynäkologen dazu motiviert, Abbrüche anzubieten, glaubt sie nicht. Und auch die Theorie Frickes, dass das "katholisch geprägte Einzugsgebiet" eine Rolle spiele, unterstützt sie nicht. "Manche argumentieren damit, dass sie Leben schützen, andere damit, dass sie Patientinnen helfen", fasst sie es zusammen. "Und beide Meinungen sind nachvollziehbar." Doch sie sagt auch: "In unserer Gesellschaft ist es vielleicht leichter, nicht Position zu beziehen."

"Leben, auch das ungeborener Kinder, oberste Priorität "

Auf die Frage, ob das Klinkum Ingolstadt wirklich keine Abtreibungen anbietet und wie man das begründet, antwortet eine Pressesprecherin, dass man "nach allen rechtlichen Regeln und nach ethischen Grundsätzen" handele, "bei denen das Leben, auch das ungeborener Kinder, oberste Priorität hat".  Weiter heißt es: "Sollten das Leben oder die Gesundheit der Mutter durch das Austragen einer Schwangerschaft erheblich gefährdet sein oder Erkrankungen/Fehlbildungen eines ungeborenen Kindes so schwerwiegend sein, dass diese nicht mit dem Leben vereinbar sind, finden die Schwangeren bei uns medizinische Beratung und Hilfe."

Das sagt die Bundesärztekammer

Die Bundesärztekammer erklärt auf DK-Nachfrage, dass die Liste "hauptsächlich auf bereits vorhandenen Listen für Hamburg und Berlin"  beruhe. Dort haben die örtlichen Gesundheitsbehörden bereits im Vorfeld solche Listen geführt. "Die Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen wurden schriftlich angefragt, ob sie auch auf der Liste der Bundesärztekammer erscheinen möchten. Ein Großteil hat dem zugestimmt", heißt es in der Stellungnahme weiter. Einzelne Ärzte aus Nordrhein-Westfalen und Hessen seien darüber hinaus an die Bundesärztekammer herangetreten und hätten darum gebeten, aufgenommen zu werden. Seit dem Start könnten nun auch Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen aus dem gesamten Bundesgebiet die Aufnahme beantragen. Die Liste werde monatlich aktualisiert.

Sophie Schmidt