Wien
Kanzler- und Regierungssturz in Österreich

27.05.2019 | Stand 02.12.2020, 13:52 Uhr
Mit einem Misstrauensvotum hat die Opposition Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und sein gesamtes Kabinett gestürzt. −Foto: Roland Schlager/APA

Es war 16.14 Uhr. Die Mehrheit der Abgeordneten erhebt sich zur Abstimmung. Betretene Gesichter auf der Regierungsbank. Ein historischer Moment. Österreichs Kanzler und sein Kabinett sind - vorerst - Geschichte.

Sebastian Kurz schien es noch nicht zu begreifen. Er wirkte zwar gefasst, aber auch betreten, betäubt, ohnmächtig. Gerade noch saß er fest im Sattel. Im nächsten Moment waren er und seine Regierung gestürzt - durch das erste erfolgreiche Misstrauensvotum in Österreichs Geschichte.

Höflich, korrekt, so ist er, reichte er der zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) die Hand. Eine Abschiedsgeste.

Glänzende Wahlsiege auf jeder Ebene, beste Popularitätswerte, eine stabile Mehrheit - die Säulen der Macht sind für Kurz innerhalb kürzester Zeit zerbröckelt. Nur zehn Tage nach Beginn der Regierungskrise mit dem Skandal-Video seines einstigen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache ist auch der 32-Jährige politisch unter die Räder gekommen. Der von SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt getragene Misstrauensantrag hat Österreich politisch auf den Kopf gestellt.

Die seit dem Platzen der ÖVP-FPÖ-Koalition erstarkte Opposition nutzte ihre erste Chance. „Sie wollen nicht überzeugen, sie wollen erzwingen“, bemängelte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner den Umgang des Regierungschefs mit dem Parlament. Und auch Ex-Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ unterstellte dem Kanzler einen „widerlichen“ Griff nach der Macht.

Es wirkt so, als ob dem einstigen politischen Wunderkind Europas der Hang zum immerwährenden Wahlkampf-Modus zum Verhängnis geworden ist. Schon in der ersten Erklärung zur Regierungskrise habe Kurz eine „beinharte Wahlkampfrede“ gehalten, meinte die SPÖ-Abgeordnete Andrea Kuntzl am Montag. „Das war eines österreichischen Kanzlers unwürdig. So erarbeitet man sich Schritt für Schritt Misstrauen.“

Es war der Grundtenor einer dreistündigen Debatte, in der die Opposition versuchte, Kurz als reinen Macht-Politiker darzustellen, dem Staatsräson nur dann in den Sinn kommt, wenn sie ihm dient. Er habe binnen zwei Jahren zwei Koalitionen an die Wand gefahren, erinnerten Redner an seine angeblich destruktive Rolle beim Ende der SPÖ-ÖVP-Koalition 2017.

Kurz gab sich in seiner Rede wie gewohnt eher kühl und staatsmännisch sortiert. Und er sah sich bereits wieder als jemand, der weiß, was das Volk will. „Jetzt auch noch die ganze Regierung stürzen zu wollen, wenige Monate vor einer Wahl, das ist etwas, das kann, glaube ich, niemand in diesem Land nachvollziehen.“ In der Tat lehnt eine Mehrheit laut Umfragen das Misstrauensvotum ab.

So ist der Schritt für die SPÖ eine brisante Sache. Die SPÖ habe ihre Meinung in Sachen Kanzlersturz in der eigenen Echokammer gebildet, schrieb der „Kurier“. „Sie verwechselte die Befindlichkeit ihrer Funktionäre und der Twitterblase mit den Wählern.“

Bei der EU-Wahl hat die SPÖ mit rund 23 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis verbucht. Doch diese Schlappe sollte die intern umstrittene Parteichefin Rendi-Wagner nicht vom Angriff auf den 32-Jährigen abhalten. Verlockend scheint die Aussicht, dass Kurz im Wahlkampf auf den Amtsbonus und umfangreiche strategische Hilfe aus dem Regierungsapparat verzichten muss.

Die Sozialdemokraten wollen nun eine reine Expertenregierung, und sie sehen darin eine große Chance. Bis zu den für September geplanten Neuwahlen könnten die Bürger den Eindruck bekommen, dass ein Kabinett auch ohne Kurz funktionieren kann. Voraussetzung wäre ein politisches Schwergewicht an der Spitze: Der ehemalige EU-Landwirtschaftskommissar Franz Fischler wird inoffiziell genannt, aber niemand wollte das zunächst bestätigen.

Fischler wäre genau jener Typus, der auf das Such-Profil passen würde. Bundespräsident Alexander van der Bellen will dem Vernehmen nach einen Politiker mit EU-Expertise. Denn für Österreich kommt der Polit-Showdown zu einem ungünstigen Zeitpunkt. In Brüssel werden ab Dienstag extrem wichtige personelle Weichen gestellt. Ob Kurz noch zum Sondergipfel fliegen kann, ist unklar. Van der Bellen könnte die Regierung noch für kurze Zeit im Amt lassen.

Ob mit oder ohne Amtsbonus - Kurz bleibt der haushohe Favorit für die Neuwahlen im September. „Ich sehe von den aktuellen Spitzenkandidaten für die Nationalratswahl niemanden, der Kurz kommunikativ das Wasser reichen könnte“, sagte Politikberater Thomas Hofer der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Und auch die FPÖ ist trotz des verheerenden Ibiza-Videos ihres einstigen Parteichefs Strache, in dem er sich für Machtmissbrauch und Korruption anfällig zeigt, schon wieder oben auf. Der designierte FPÖ-Chef Norbert Hofer träumt von vielen Prozentpunkten, die die Partei im Vergleich zu den gut rund 17 Prozent bei der EU-Wahl zulegen werde.

Die nun unter der Regie des Bundespräsidenten zu bildende Übergangsregierung wird voraussichtlich mindestens sechs Monate im Amt sein. Sie muss bleiben, bis nach den Neuwahlen im September erfolgreich eine neue Regierung gefunden ist. Nur zu verwalten, wird in dieser Zeit kaum möglich sein. Zugleich hat die Regierung bei ihren Entscheidungen aber keine demokratische Legitimation.

Die Macht-Demonstration der Opposition könnte Kurz zum Polit-Märtyrer machen, der umso deutlicher beim nächsten Mal als Sieger durchs Ziel gehen wird. Die „Kronen Zeitung“ vermutet, dass aus dem aktuellen Rückenwind für Kurz ein Orkan werden könnte. Und auch ein führender Sozialdemokrat unkte: „Er gewinnt jede Wahl, egal, was er tut.“

Parlament zum Misstrauensantrag