München
Jung gebliebene Dirigentenlegende

Soziales Engagement und große Kunst: Claudio Abbados grandioses Orchestra Mozart Bologna gastierte im Münchner Herkulessaal

07.12.2012 | Stand 03.12.2020, 0:44 Uhr

Eine Art Anti-Karajan: Claudio Abbado dirigiert das Mozart-Orchester - Foto: Nirmal

München (DK) Claudio Abbado ist sehr alt. Mühsam wankt der seit seiner Krebserkrankung erschreckend schmächtige Mann auf die Bühne des Münchner Herkulessaals, greisenhaft sind seine Bewegungen, eingefallen seine Gesichtszüge. Wenn der 79-Jährige sich dem Publikum zuwendet, zittern seine Lippen.

Aber Abbado ist auch geistig einer der jüngsten Dirigenten unserer Zeit. Um seinen frischen Impetus zur Geltung zu bringen, hat er vor acht Jahren das Orchestra Mozart Bologna gegründet. Das Konzept für dieses Kammerorchester ist einzigartig: neben erfahrenen Musikern, großen Solisten oder Stimmführern der weltbesten Orchester wie etwa der Berliner Philharmoniker oder den Wiener Philharmonikern sitzen junge Nachwuchskräfte. Abbado geht es dabei allerdings nicht nur darum, gegen die Routine der Stadtorchester anzumusizieren, sondern auch um soziale Verantwortung. Seit Jahren bemüht sich der ehemalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, die klassische Musik in der italienischen Gesellschaft wieder zu verankern – ein wichtiges Anliegen angesichts schwindender staatlicher Förderungen und des Sterbens regionaler Orchester und Opernhäuser. Darüber hinaus engagiert sich das Mozart-Orchester mit zwei Projekten in Krankenhäusern und bei der Resozialisierung von Strafgefangenen. So treten die Orchestermusiker in den Strafvollzugsanstalten auf und erarbeiten mit einem Chor dort gemeinsame Programme.

Aber kann ein derart sozial ambitionierter Klangkörper auch künstlerisch überzeugen? Im ausverkauften Herkulessaal gelang das fast uneingeschränkt. Die Musiker hatten auf ihrer Tournee ausschließlich Musik von Johann Sebastian Bach aufs Programm gesetzt. Dabei hörten sich die Werke sehr unterschiedlich an, je nachdem welche Solisten auf dem Podium standen und wie stark Abbado ins Geschehen eingriff. Abbado ist als liebenswürdiger und bescheidener Orchesterleiter bekannt. Eine Art Anti-Karajan. Er kann sich zurücknehmen, und das genau war beim Eröffnungsstück, der h-Moll-Suite, deutlich spürbar. Hier gestaltete vor allem Jacques Zoon, ehemaliger erster Flötist des Concertgebouw Orchestra Amsterdam. Zoon ist ein elegant spielender Flötist – neue Wege, inspirierende Ideen gehen von ihm allerdings kaum aus. So blieb der Programmbeitrag bei aller Perfektion ein wenig enttäuschend. Ganz anders der Eindruck, als Isabelle Faust das d-Moll-Violinkonzert spielte. Plötzlich wirkt das Orchester wendiger und energischer, während die deutsche Solistin rhythmisch höchst präsent schlanke, vibratoarme Töne produzierte. Und es gab einen Moment höchster Magie am Ende des langsamen Satzes, ein Augenblick winterlicher Gefühlsintensität, als die Geige und das Orchester immer mehr zurückwichen, die Cembali im Harfenzug eisig zirpten und die Musik zu erstarren schien.

Ein Höhepunkt des Konzertes war sicherlich auch die Aufführung der dritten Orchestersuite. Verblüffen konnte besonders die „Air“. Abbado ließ die Musiker vibratolos und im Pianissimo spielen mit nur ganz minimalen Akzenten. So verinnerlicht, so schlicht kann man diesen Satz sonst nie hören. Abbados Bach-Bild zeichnet sich durch Transparenz aus, durch Lebendigkeit, ohne je ruppig zu sein, durch schlanke Linien, ohne jede Kälte. Mit diesem modernen, jugendlichen Konzept kommt er der historischen Aufführungspraxis sehr nahe.

Das grandiose Konzert schloss mit einem Fest für die wunderbaren Solisten im Orchester: der gut gelaunte Trompeter Reinhold Friedrich, der Oboist Luca Macías Navarro, der Geiger Raphael Christ und Jacques Zoon standen an der Rampe, verströmten Musizierlust und ließen den kleinen, fast versteckt hinter dem Cembalo stehenden Spiritus Rector dieses Konzertes Claudio Abbado fast vergessen. Aber um ihn ging es. Das Publikum tobte vor Begeisterung und ehrte mit dieser Demonstration die jung gebliebene Dirigentenlegende.