Altmannstein
Jugendliebe rostet nicht

Er ist ihre große Jugendliebe, doch die Eltern stellen sich gegen eine Heirat. Es vergehen 53 Jahre, bis Frieda Schoppmeier ihn in Altmannstein wiedertrifft: ihren Rudi. Ganz zufällig, beinahe ein ganzes Leben später. Geblieben ist die Liebe.

21.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:13 Uhr
Eine Freundschaft ist zwischen Frieda Schoppmeiers Sohn Werner und Rudi Uttlinger entstanden. −Foto: Ammer, privat

Altmannstein (DK) Es ist das Jahr 2005, kurz vor Allerheiligen auf dem Altmannsteiner Friedhof. Frieda Schoppmeier richtet gerade das Grab ihres gestorbenen Mannes für den Feiertag her. "Hinter mir redet einer, ich hab gar nicht darauf geachtet", erzählt sie heute, fast 13 Jahre später. Doch es ist kein Fremder, der da hinter ihr steht. Ganz im Gegenteil - und irgendwie doch nach so langer Zeit. Er spricht sie an: "Kennst mich nicht mehr, oder willst mich nicht kennen?" Frieda Schoppmeier braucht einen Moment, bis sie den jungen Mann in den gealterten Zügen findet. So lange ist es her, so viele Jahre sind vergangen, so viel Leben. Dann fragt sie: "Rudi, bist du des?"

Mitten in der Weimarer Republik wird Frieda Schoppmeier am 12. August 1928 in Altmannstein geboren. Als der Zweite Weltkrieg endet, ist sie gerade 16 Jahre alt. Sie erinnert sich noch gut, wie die Amerikaner kamen. "Wir hatten einen großen Garten am Bahnhof", erzählt sie - da sei sie hin und habe die Amerikaner am Wetterkreuz über dem Ort gesehen. "Es war alles voller Kanonen über Altmannstein", erinnert sie sich. Die Offiziere seien über den Hang heruntergekommen. Die Bevölkerung habe sich widerstandslos ergeben. Anders als bei Pondorf, wo sie SS-Soldaten erwischt hätten, die in der Nacht vorher noch in Altmannstein waren, wie sich Frieda Schoppmeier erinnert. "Abends um zehn haben sie uns aus dem Haus rausgeschmissen", erzählt sie, wie 35 Amerikaner in ihr Elternhaus kamen. Die Familie fand Zuflucht in der Werkstatt. "Damals war ich frech." Die 90-Jährige lacht vergnügt. Aus dem besetzten Haus habe sie noch ihr Akkordeon herausgeholt. "Ich hab mein Akkordeon heiß geliebt und das wär weg gewesen", erklärt sie. Einer der Amerikaner hat ein Auge auf die junge blonde Frau geworfen, schenkt ihr Schokolade und versorgt die Familie mit Essen. Doch als er ein Busserl will, ist es der jungen Frau zu viel.

Das ist die Zeit, in der sie auch Rudi Uttlinger kennenlernt. Ihren Rudi. Der junge Mann kommt aus Bettbrunn - und verliebt sich bei einem Tanzkurs in Frieda. Mit niemand Anderem habe er sie tanzen lassen, der Rudi, nur mit ihm. Die junge Frau darf im Übrigen nur teilnehmen, weil auch ihr Bruder den Tanzkurs macht. "Und zum Schlusskranzerl waren doch die Eltern eingeladen", erzählt Frieda Schoppmeier von ihren Sorgen damals, denn Mutter und Vater durften nichts von der Liebschaft mitbekommen. Das Problem erledigt sich schließlich von selbst, noch vor Abschluss des Tanzkurses geht die 18-Jährige nach München. "Nach dem Krieg gab es eine große Arbeitslosigkeit", erzählt Frieda Schoppmeier. Sie bekommt eine Anstellung in einer Metzgerei.

Es dauert nicht lange, dann folgt ihr Rudi Uttlinger nach München. Die jungen Leute sind vorsichtig, versuchen ihre Beziehung zu verbergen. "Die Eltern haben nichts wissen dürfen." Doch es kommt, wie es kommen muss: "Die Eltern haben es erfahren und ich hab heimmüssen." Und Frieda Schoppmeier fügt hinzu: "Sie haben ewig auf mich eingeredet. Und wir waren doch folgsam damals. Das war das Traurige." Doch Frieda kämpft um ihren Rudi, die junge Frau wird dabei so dünn und schmal, dass ihre Eltern sie zurück nach München gehen lassen. Heiraten lassen sie das junge Paar nicht. Vielmehr wünschen sie sich - selbst Geschäftsleute - einen gut situierten Geschäftsmann für ihre Tochter. Was Rudi eben absolut nicht war. "Der Rudi hat gerade erst seine Gesellenprüfung gemacht, er war ja so alt wie ich." Als Frieda nach München zurückkommt hat Rudi Uttlinger eine andere Frau kennengelernt, eine Schneiderin, die ihm nachlaufe, wie er erzählt. Eine Weile geht das so, bis Frieda Schoppmeier beschließt zu gehen.

"Ich bin von München weg, wollte nichts mehr hören und sehen. Ich wollte nach Kanada." Eine frühere Angestellte der Familie und gute Freundin von Frieda Schoppmeier war mit ihrem Mann, einem Jugoslawen, in das nordamerikanische Land ausgewandert. "Meine Eltern waren ganz aus dem Häuschen", erinnert sie sich. Aber sie habe ihnen gesagt: "Englisch lern ich schon, ich will weg!" Der Vater rät ihr, nach Österreich oder in die Schweiz zu gehen, irgendwohin, wo man Deutsch spreche. Den Ausschlag gibt allerdings die Krankheit der Mutter. Die junge Frau will nirgendwo hingehen, wo sie drei Wochen mit dem Schiff braucht, um nach Hause zu kommen.

Es ist schließlich der Zufall, der ihr weiterhilft. Eine Frau kommt in die elterliche Schreinerei und bestellt einen Schrank - ihre Tochter lebe in der Schweiz, erzählt sie. Friedas Mutter sagt ihr, dass ihre eigene Tochter auch in die Schweiz gehen wolle - und tatsächlich kommt wenig später ein Brief von eben jener Tochter aus der Nähe von Zürich, in dem sie Frieda auffordert, zu kommen. "Innerhalb von 14 Tagen war ich in der Schweiz."

Frieda Schoppmeier wird Haushälterin im Hause Guyer-Zeller - bekannt durch Adolf Guyer-Zeller, den Begründer der Jungfraubahn. Das Schwizerdütsch versteht die junge Frau zunächst nicht, doch mit der Chefin, die geborene Deutsche ist, versteht sie sich außerordentlich gut. "Wir waren ein Herz und eine Seele." Auch deshalb, weil die junge Frau gesittet ist und keine Männer anschaut. "Ich bin ja aus Liebe abgehauen", erklärt sie. Außer Rudi habe sie kein Mann interessiert. Nachmittags sitzen die Frauen oft im großen Garten des Anwesens zusammen, Frieda Schoppmeier serviert das Essen, wenn Gäste kommen. Unter ihnen auch der Arzt und Philosoph Albert Schweitzer.

Drei Jahre lebt die Altmannsteinerin im Hause Guyer-Zeller, dann kehrt sie auf einen Heimatbesuch nach Altmannstein zurück. Zum 90. Geburtstag ihrer Großmutter. Es ist das Jahr 1954 - und Frieda erfährt, dass ihr Rudi vorhat zu heiraten. "Da hab ich gekündigt, hab mir gedacht: aus, fertig", erzählt sie. Schon wenige Wochen später verlässt sie die Schweiz, will mit dem Thema Rudi endgültig abschließen, ihr Leben neu beginnen. Im Zug trifft sie auf die deutsche Fußballnationalmannschaft, die als Weltmeister aus Bern zurückkehrt. "An der Grenze ist ihr Abteil an den Zug angehängt worden." In München hat sie drei Stunden Aufenthalt - und es steigen die Bekannten und Schwestern von Rudi zu. Fein herausgeputzt, er hat soeben geheiratet, wie sie erzählen. "Ich hab nicht gewusst, wann er Hochzeit hat." Die junge Frau verbirgt ihre Tränen hinter dem Vorhang des Zugfensters.

Schließlich nimmt sie ihre Arbeit in der Münchner Metzgerei wieder auf und zwei Jahre später, 1957, heiratet sie den Metzger Werner Schoppmeier. "Wir haben eine gute Ehe geführt. Ich habe eine Seele von einem Menschen gehabt", sagt sie heute. Und fügt hinzu: "Ich habe einen besseren Mann gehabt." Schon kurz nach der Hochzeit wird Sohn Werner geboren. "Auf meinen Sohn kann ich mich 1000-prozentig verlassen." Sie strahlt. Das Ehepaar kauft ein Haus in Altmannstein, das es am Wochenende herrichtet. Als der Metzger in den Ruhestand geht, ziehen sie ganz in die Marktgemeinde. Die letzten Jahre seines Lebens pflegt Frieda Schoppmeier ihren Mann zu Hause, dann im Heim, bis er schließlich stirbt - und es zu jenem Treffen auf dem Altmannsteiner Friedhof im Jahr 2005 kommt.

"Ich hab' gedacht, dass du mich an der Stimme kennst", habe der Mann hinter ihr am Grab zu ihr gesagt. Und noch heute sagt Frieda Schoppmeier völlig fassungslos: "Nach 53 Jahren steht der plötzlich hinter mir." Und nach einem Zögern: "Es war ein komisches Gefühl." Zwei seiner Schwestern sind in Altmannstein begraben, doch sie weiß, dass er auch gekommen ist in der Hoffnung, sie zu finden. Frieda Schoppmeier lädt den Mann, der doch einst ihr Rudi war, auf eine Tasse Kaffee zu sich ein, wenn er denn mal wieder in Altmannstein ist. "Dann können wir uns erzählen, wie unser Leben war." Und natürlich kommt er - es beginnt zu schneien an jenem Nachmittag und der inzwischen ebenfalls verwitwete Rudi Uttlinger bleibt. Dieses Mal für immer. "Jetzt sind wir schon wieder 13 Jahre beinand", Frieda Schoppmeier schüttelt den Kopf, als könnte sie es selbst kaum glauben. Zunächst leben sie immer vier Wochen bei ihm in Vaterstetten, vier Wochen bei ihr in Altmannstein. Schließlich zieht er ganz zu ihr. "Der Herrgott hat es so haben wollen", ist sie sich über ihre Beziehung sicher.

Heute sind sie beide 90 Jahre alt. Rudi Uttlinger ist gleich ums Eck ins Altenheim gezogen, als es zu Hause gesundheitlich nicht mehr ging. Frieda Schoppmeier verbringt jeden Nachmittag mit ihm. Sie nennt ihn liebevoll "Schatz", ihren Rudi, - und er hält ihre Hand. Ganz fest, als würde er sie niemals wieder loslassen.

Isabel Ammer