Berlin
Jobwunder mit Schwächen

OECD hat auch am boomenden deutschen Arbeitsmarkt noch einiges zu kritisieren

13.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:57 Uhr

Berlin (DK) Kaum eine Wolke trübt derzeit den Himmel über dem deutschen Arbeitsmarkt. Der Bundesregierung könnte eigentlich nichts Besseres geschehen im Wahljahr. Und dennoch herrscht nicht eitel Sonnenschein, wie die OECD kritisch anmerkt.

Rekordbeschäftigung, gute Löhne und hohe Jobsicherheit: Auf den ersten Blick stellt die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) der Bundesrepublik im internationalen Vergleich ein hervorragendes Arbeitsmarktzeugnis aus. Doch zeigte OECD-Generalsekretär Angel Gurría bei der Vorstellung des Beschäftigungsausblicks gestern in Berlin auch große Schwächen Deutschlands auf: Der Stress in vielen Jobs sei höher als in anderen Ländern, die Kluft zwischen dem Verdienst von Frauen und Männern besonders groß, und auch hierzulande würden Arbeitsplätze mit mittlerer Qualifikation wegbrechen. Ist die deutsche Arbeitswelt ungerecht? Wem liefert die OECD Wahlkampfmunition? Hintergründe zum Beschäftigungsausblick der Organisation.

 

Wie schneidet der deutsche Arbeitsmarkt im inter-nationalen Vergleich ab?

Mit einer Beschäftigungsquote von 66 Prozent liegt Deutschland klar über dem OECD-Durchschnitt von 61 Prozent. Die Arbeitslosenquote wird nach den Berechnungen bis Ende 2018 auf 3,7 Prozent sinken, einem der besten Werte unter den Industrienationen. Die Einführung des Mindestlohns hat laut OECD den Rückgang der Arbeitslosigkeit nicht gebremst. Das Lohnwachstum werde von derzeit 2 auf 2,5 Prozent steigen, bleibe damit aber weiter nur "verhalten", so die Wirtschaftsexperten. Zwar sind die Löhne in Deutschland im internationalen Vergleich gut. Doch beklagt die OECD einen großen Niedriglohnsektor. Vor allem ältere Arbeitnehmer und Zweitverdiener hätten gering entlohnte Stellen. "Der Anteil der Menschen mit niedrigem Einkommen liegt höher als in Frankreich und ist doppelt so hoch wie in Island."

 

Wo liegt die größte Schwäche des deutschen Arbeitsmarktes?

Wenn es um gleiche Einkommen von Frauen und Männern geht, schneidet Deutschland im internationalen Vergleich besonders schlecht ab und landet sogar sechs Punkte unter dem Durchschnitt. Die OECD führt dies allerdings nicht auf eine unterschiedliche Bezahlung für gleiche Arbeit zurück, sondern darauf, dass Frauen in Deutschland weniger arbeiten als in anderen Ländern. Um das zu ändern, empfiehlt die Industrieländerorganisation die Abschaffung des Ehegattensplittings. Eine niedrigere Besteuerung von Zweitverdienern könne den Anreiz zur Vollarbeit erhöhen. Überdies hält die OECD den Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen für notwendig.

 

Was ist mit der Belastung im Job?

Beim arbeitsbedingten Stress liegt Deutschland über dem Durchschnitt. Hierzulande gibt es im Vergleich mehr Jobs, in denen die Arbeitnehmer den Anforderungen kaum gerecht werden. 46 Prozent der Beschäftigten stufen die Belastung als hoch ein, fünf Punkte mehr als im OECD-Mittel.

 

Welchen Einfluss haben technischer Fortschritt und Globalisierung auf den Arbeitsmarkt?

In den vergangenen 20 Jahren sind Jobs für Arbeitnehmer mit mittlerer Qualifikation weggebrochen. Um 8,1 Prozent ging die Zahl der Stellen in Deutschland seit 1995 zurück. Im gleichen Zeitraum gab es ein Plus bei Jobs für Hoch- und Geringqualifizierte von 4,7 beziehungsweise 3,4 Prozent. Die OECD warnt vor einem Auseinanderklaffen des Arbeitsmarktes durch den Verlust von Mittelschichtjobs: "Viele Sorgen, die der Gegenbewegung zur Globalisierung zugrunde liegen, sind real", heißt es. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zeigte sich zuversichtlich, dass der Umbruch beherrschbar sei. Die Zeit sei allerdings knapp und es gehe nicht immer "ohne Ruckeln".

 

Ist der Arbeitsmarkt ein Wahlkampfthema?

Nahles sieht sich durch die Forderungen der OECD bestätigt und kündigte an, einen neuen Anlauf für ein Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit zu nehmen, weil Frauen oft gegen ihren Willen nicht in Vollzeit arbeiten könnten. "Ich bleibe dran", sagte Nahles. "Wir unterstützen Sie", versprach Gurría. Die Union hatte einen entsprechenden Gesetzentwurf abgewehrt, weil ihr die Auflagen für kleinere Unternehmen zu weit gingen. Überdies warb Nahles gestern für den Plan, die Arbeitsagentur zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung auszubauen und für Arbeitnehmer ein Konto mit bis zu 20 000 Euro einzurichten, aus dem Qualifizierungsmaßnahmen, Existenzgründungen oder ehrenamtliche Tätigkeiten finanziert werden sollten. Wer das Konto füllen soll, ließ Nahles allerdings offen. Die Gewerkschaften unterstützen den Plan, die Wirtschaft warnt vor neuen Belastungen.