Jeremys tragischer Tod

08.01.2014 | Stand 02.12.2020, 23:14 Uhr
Ein schlichtes Grab und die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits: Seitdem der zwölfjährige Jeremy in der Schule an einem Gummihandschuh erstickte, ist das Leben seiner Eltern aus den Fugen geraten. Die Kripo ermittelt wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung in einer Behinderteneinrichtung. −Foto: Richter

Ingolstadt (DK) Jeremy könnte noch leben. Der Bub ist an einem Gummihandschuh erstickt, den er verschluckt hatte.

Kinder seines Alters wissen gewöhnlich, dass sie nicht alles sorglos in den Mund stecken dürfen. Doch der Zwölfjährige kannte solche Gefahren nicht. Wie auch, hatte er doch von Geburt an mit einer schweren Behinderung gelebt – mit einem Gendefekt, der seine geistigen wie körperlichen Fähigkeiten stark reduzierte. Aber Jeremy war stets ein fröhliches Kind, das seiner Familie trotz der starken Belastung viel Freude bereitete. „Unser Sonnenschein ist von uns gegangen“, sagt seine Mutter Monika B. aus Ingolstadt. Die 33-Jährige versteht nicht, wie das passieren konnte. Denn das Unglück nahm in der Schule eines Behindertenzentrums seinen Lauf. Staatsanwaltschaft und Kripo ermitteln wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung.

Der kleine Ingolstädter war mit dem Angelman-Syndrom zur Welt gekommen, benannt nach einem britischen Kinderarzt, der sich erstmals wissenschaftlich damit befasst hatte. Stark vereinfacht ausgedrückt, handelt es sich um eine fehlende Geninformation im Gehirn mit vielfachen Auswirkungen. Jerry, wie sie ihn daheim nannten, bedurfte praktisch einer Rund-um-die-Uhr- Betreuung. „Er hat nicht sprechen und nicht laufen können, musste gewindelt werden und war die meiste Zeit im Rollstuhl gesessen“, erzählt seine Mutter. Der Bub besuchte aber die Schule in einer Ingolstädter Behinderteneinrichtung, so wie das Gesetz es vorschreibt. Dort wähnte Monika B. ihr Kind bestens aufgehoben.

Bis zum Nachmittag des 25. Oktober. Die 33-Jährige hatte gerade ihre sechsjährige Tochter zum Turnen gebracht und kam vom Einkaufen zurück, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende meldete sich eine Beschäftigte der Einrichtung. „Sie müssen schnell kommen“, sagte sie mit aufgeregter Stimme. Die Eltern machten sich sofort auf den Weg. „Mein Mann hat von unterwegs noch einmal angerufen, weil wir wissen wollten, was eigentlich los ist. Sie haben was von einem Krampfanfall gesagt.“ Das Ehepaar ist alarmiert. „Da kann was nicht stimmen, das letzte Mal, dass Jerry gekrampft hat, war im Alter von sechs Monaten“, denkt die Mutter sich. Als sie in den Schulräumen ankommen, erkennen sie sofort den Ernst der Lage. Notarzt und Sanitäter kümmern sich um ihren leblosen Sohn, der ohne Puls ist. Sie beatmen und reanimieren ihn. Es steht nicht gut um das Kind. Einer der Helfer berichtet den Eltern, dass der Bub „irgendwas verschluckt hat“.

Monika B. begleitet Jeremy auf dem Weg ins Klinikum, tatsächlich zeigen sich plötzlich wieder Lebenszeichen. Doch wie lange war sein Gehirn schon ohne Sauerstoff? Der Zwölfjährige kommt sofort auf die Intensivstation und wird ins künstliche Koma versetzt. Alles Hoffen und Bangen bleibt indes vergeblich. Drei Tage später stellen die Ärzte den Gehirntod des Buben fest und schalten die Geräte ab. „Ich habe noch gedacht, dass er vielleicht überlebt, weil ein Pupillenreflex zu erkennen war“, sagt die 33-Jährige. Doch am 29. Oktober hört das kleine Herz auf zu schlagen; die Mutter hält Jeremy bis zum Schluss die Hand. Für die Eltern bricht eine Welt zusammen. Nie wieder wird das typische Juchzen des Buben daheim durchs Haus schallen.

Zum Schmerz und zur Trauer kommt die Frage: Wie hat das passieren können? Das versuchen die Ermittlungsbehörden zu klären. Letzte Kontaktperson war nach bisherigen Erkenntnissen eine 48 Jahre alte Krankenschwester. Der Zwölfjährige soll nach dem Mittagessen in einem Spielraum neben dem Klassenzimmer zum Entspannen auf den Boden gelegt worden sein, wie so oft in den Jahren zuvor. Die Beschäftigte soll ihn dann gefunden haben, bereits blau angelaufen und regungslos. Ihrem Chef und auch der Kripo erzählt sie später, dass „so etwas wie ein Gummihandschuh“ im Rachen des Buben steckte. Sie habe ihn sofort herausgezogen und mit Wiederbelebungsversuchen begonnen, bis der Rettungsdienst eintraf. Wie Jeremy an den Handschuh gelangte, blieb bislang offen. „Er hat sich rollend fortbewegen können“, sagt seine Mutter. „Vielleicht ist der Handschuh irgendwo auf dem Boden gelegen, und er hat sich ihn geschnappt. Er hat oft Sachen in den Mund genommen, das war eben seine Art, Dinge zu erfahren.“ Das Beweisstück fehlt, es endete wohl mit den gebrauchten Utensilien der Sanitäter im Müll.

„Wir ermitteln wegen eines unnatürlichen Todesfalls und haben dazu ein Gutachten in Auftrag gegeben“, sagt Behördenchef Helmut Walter von der Staatsanwaltschaft Ingolstadt. „Wenn alle Fakten vorliegen, entscheiden wir, ob tatsächlich eine fahrlässige Tötung vorliegt und wer dafür verantwortlich zu machen ist.“ Das werde noch eine Weile dauern. In der Behinderteneinrichtung herrscht große Bestürzung. „Wir haben intern natürlich ausgiebig über die Sache gesprochen. Aber wir wollen jetzt erst den Ausgang des Verfahrens abwarten“, sagt deren Leiter.

Es soll nicht das erste Mal gewesen sein, dass ein in dieser Einrichtung betreutes Kind etwas verschluckt hat. Eine andere Mutter (34) berichtet davon, dass ihr ebenfalls behinderter Sohn einmal mit einem Luftballon im Bauch heimgekommen sei. „Ich bin in einem Elternbrief aufgefordert worden, darauf zu achten, dass er das Teil auf natürlichem Weg wieder ausscheidet“, sagt die Frau. „Wir haben uns große Sorgen gemacht und sind gleich für eine Ultraschalluntersuchung ins Klinikum. Der Ballon war zum Glück schon auf dem Weg nach draußen.“

Auch wenn diese Sache schon eine ganze Weile zurückliegt, macht die 34-jährige Ingolstädterin sich nach Jeremys Tod große Sorgen um ihr eigenes Kind. „Ich habe meinen Sohn deshalb in der Woche nach den Allerheiligenferien unentschuldigt daheim gelassen“, räumt sie ein. Im Behindertenzentrum habe man erst nach fünf Tagen nachgefragt, wo er denn sei. Dabei sei ihr mit dem Jugendamt gedroht worden, erzählt die Mutter des 14-Jährigen.

Tatsächlich tauchten drei Tage später eine Frau und ein Mann bei der Ingolstädterin auf, gaben sich als Jugendamtsmitarbeiter aus und wollten den Buben und sein Wohnumfeld sehen. „Sie haben ihn dann ganz nackt ausgezogen und überall angeschaut, weil er angeblich ständig mit Kratz- und Bisswunden in die Schule kommt. Dabei ist es genau umgekehrt, er ist oft von dort mit solchen Verletzungen heimgekommen“, sagt die 34-Jährige. Die Besucher hätten ihr abschließend damit gedroht, das Kind müsse ins Pflegeheim, falls wieder etwas vorkomme.

Als die Mutter noch am selben Tag im Jugendamt anrief, um den beiden ihre Kooperation anzubieten, erfuhr sie, dass sie Opfer zweier Lügner geworden war. „Wir sind nicht bei der Familie gewesen“, sagte Amtschef Maro Karmann. „Im Regelfall melden wir uns an, außerdem weisen unsere Leute sich immer aus.“ Jetzt rätselt die 34-Jährige, wer die falschen Amtspersonen waren und woher deren Wissen über ihren Sohn stammt. „Wir haben Anzeige erstattet.“

Monika B. kämpft derweil mit anderen Problemen. Ihr Mann hat sich den Tod des Sohnes so sehr zu Herzen genommen, dass er seither arbeitsunfähig im Krankenhaus liegt. Jetzt, wo das stets fröhliche Kind nicht mehr lebt, sieht er nur noch dunkle Nacht um sich herum. Seine zierliche Ehefrau wirkt dennoch äußerlich gefasst und versucht, das Leben in einigermaßen normalen Bahnen zu halten. Nachts liegt sie aber oft wach und grübelt. „Da kann ich mir erlauben, schwach zu sein.“ Die 33-Jährige glaubt fest an ein Wiedersehen mit ihrem Jeremy und hat ihn auf dem Friedhof, nicht weit entfernt von ihrem Haus, ganz bewusst direkt am Wegrand bestatten lassen. Behindertengerecht sozusagen.„Wenn es so etwas wie Seelenwanderung oder Auferstehung gibt, dann sollen keine Hindernisse ihn aufhalten.“ Tröstliche Gedanken einer Mutter, die versucht, ihren Schmerz irgendwie in rationale Bahnen zu lenken.