Jans Absturz tut weh

Für DK-Redakteur Timo Schoch war Jan Ullrich früher ein Held - Nun hat er nur noch Mitleid mit ihm

06.08.2018 | Stand 02.12.2020, 15:55 Uhr

Wann immer Sport im Fernsehen lief, meine Familie fieberte mit.

An Boris Beckers Wimbledon-Sieg kann ich mich nur schwach erinnern. Anhand der Reaktion meines Vaters konnte ich aber entnehmen, dass da etwas besonderes passiert sein muss. Den WM-Titel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 1990 in Italien erlebte ich dann schon bewusst mit. Und Dieter Baumanns Wunderlauf zu Olympia-Gold 1992 in Barcelona werde ich auch nie vergessen. Aber kein einziges Ereignis zog mich so sehr in den Bann wie Jan Ullrichs Triumphfahrt zum Tour-Sieg 1997. Noch heute schaue ich mir die alten Aufnahmen von damals an. Die Qualität ist zwar teilweise miserabel und doch bekomme ich Gänsehaut, wenn ich Jans (Sportler duzen sich) Antritt nach Andorra-Arcalis sehe, seine legendäre Fahrt ins Gelbe Trikot. Und wie er schließlich wenige Tage später Sportgeschichte schrieb und als erster Deutscher das bedeutendste Radrennen der Welt gewann. Jan war mein Held.

Jedes Jahr im Juli gab es deshalb nur ein Programm: die Tour. Zwar wurde ich nach 1997 regelmäßig enttäuscht, weil Jan eben an dem schier übermächtigen US-Amerikaner Lance Armstrong nicht vorbeikam. Und doch tröstete ich mich jedes Mal aufs neue, dass es ein Jahr später besser laufen würde. Heute wissen wir, dass es nie mehr für ganz oben reichte.

Aber das Denkmal meines Helden bekam schon 2002 erste Kratzer: Autofahrt unter Alkoholeinfluss, Amphetamine in einer Disco. Verstehen konnte ich das damals schon nicht, erst recht nicht für jemanden, der eine Vorbildfunktion innehaben sollte. Aber Fehler macht jeder. Somit verzieh ich ihm diesen Fehltritt.

Nicht verzeihen konnte ich ihm, was danach an die Öffentlichkeit drang: Jan, der Doper. Und vor allem, wie er damit herumeierte, sich um klare Aussagen drückte. Mein Bild von ihm war damit zerstört. Auch danach erfuhr ich so vieles, was mich enttäuschte. Beispielsweise seine zunehmenden persönlichen Probleme, der Unfall, den Jan in der Schweiz unter Alkohol verursacht hatte. Sowieso dieser Dämon Alkohol, der Jan so fest im Griff zu sein haben schien, wie Armstrong zu seiner aktiven Zeit. Aus der Bewunderung wurde so mehr und mehr Mitleid.

Als ich dann vor Jahren neben ihm an der Startlinie zum Ötztaler Radmarathon stand, war ich selbst über mich überrascht, wie emotionslos ich dies wahrnahm. Jan war auf Normalgröße geschrumpft. Er hatte dem Radsport so viel gegeben - und danach auch so viel wieder genommen. Die Jubelarien auf Jans Start in Sölden konnte ich da schon nicht mehr nachvollziehen. Jan war da schon längst kein Held mehr für mich - zuviel war in der Zwischenzeit passiert.

Seinen jetzigen Absturz auf Mallorca zu sehen, tut allerdings trotzdem enorm weh. Persönlich wünsche ich ihm nur, dass er sein Leben wieder in den Griff bekommt und positive Schlagzeilen schreibt. Denn wenn ich dann doch einmal wieder über die alten Youtube-Videos von Jans Triumphfahrt nach Andorra-Arcalis stolpere, möchte ich nicht automatisch dieses Bild von Jan in Handschellen und Handtuch über dem Kopf vor meinem geistigen Auge haben.

Timo Schoch leitet die Sportredaktion beim DONAUKURIER , verfolgt die Tour de France seit Kindesbeinen an und fährt selbst seit vielen Jahren Radrennen im Hobby- und Amateurbereich.