Ingolstadt
"Ingolstadt war so gemütlich"

23.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:15 Uhr

Blick zurück: Bertha Bauer, geborene Liebold, wird heute 90 Jahre alt. Auf alten Fotos sieht man sie vor der Metzgerei in der Kupferstraße 8 und am Brunnen der Gnadenthal-Schule. - Fotos: Hauser

Fast ihr ganzes Leben lang stand sie im eigenen Metzgerladen und kann Geschichten vom alten Ingolstadt erzählen wie sonst keine: Bertha Bauer, geborene Liebold, wird heute 90 Jahre alt. Gerne kramt sie in ihren Erinnerungen - an eine Kindheit in der "bubenlastigen" Kupferstraße und die Geschäftswelt.

Bis 1989 gab es die Metzgerei Liebold und Bauer in der Kupferstraße 8, an die sich noch viele Schanzer gut erinnern. Bis zum Tod ihres Mannes arbeitete Bertha Bauer im Geschäft. Und weil einst beim Einkaufen auch viel geratscht wurde, hat die Seniorin zahllose Geschichten auf Lager. Sie weiß gar nicht, wo sie anfangen soll mit dem Erzählen.

Als Kind, so erscheint es ihr heute, kam sie gar nicht heraus aus der Kupferstraße. Sie war das erste und einzige Kind des Metzgermeisters Max Liebold und seiner Frau - die Familie wohnte wie üblich über dem Geschäft. Im Hinterhof stand die Stute "Helli" im Stall: ein Rappe, der nicht schussfest war und den der Vater deshalb günstig vom Militär erworben hatte.

Als wäre es gestern, schildert die 90-Jährige das bunte Treiben in der Kupferstraße: Jede Menge Geschäfte gab es dort neben der väterlichen Metzgerei: zwei Bäckereien, einen Gemüsehändler, den Tabakladen und Kolonialwaren Nahr mit Lebensmitteln aller Art.

Was der kleinen Bertha, die ohne Geschwister aufwuchs, aber am besten gefiel: Es wimmelte in der Kupferstraße von Kindern. Da waren die Böttcher-Buben oder die drei Buben vom Knödl, der Sohn vom Wittmann und der vom Schreiner Bauer. Bubenlastig war die Kupferstraße, doch der Bertha machte das nichts aus. "Am Abend stellten alle Leute Stühle aufs Trottoir und setzten sich raus", erzählt die Jubilarin. "Und wir Kinder sind Häusl gehupft oder haben geschussert."

Beim Fleißer, der Werkzeug verkaufte, ließen die Bauern im Sommer ihre Sensen dengeln. Bertha kannte natürlich die später berühmte Schriftstellerin Marieluise, denn sie war mit deren jüngerer Stiefschwester Hilde befreundet. "Die Fleißerin lebte schon damals nicht mehr bei ihren Mann, sondern in Berlin." Bei den Ingolstädtern sei sie nicht sonderlich beliebt gewesen.

Auch als sie zur Schule kam, musste Bertha nicht weit laufen: In der Kupferstraße gab es eine Grundschule und das Gnadenthal, die Mittelschule für Mädchen. "Wir lernten auch Englisch und Maschinenschreiben. Mit 14 hab' ich dann beim Vater eine Lehre als Metzgereifachverkäuferin angefangen."

Ein "rechts Papakind" sei sie gewesen, meint Bertha Bauer und schildert, wie sie mit dem Vater mit dem "Gaiwagen" nach Gerolfing oder Etting fuhr, um bei den Bauern Vieh zu kaufen. "Nix feis", habe der Vater gerufen. Nichts zu verkaufen? "Liebold, komm' eini", riefen die Bauern, die eine Sau oder ein Kalb abzugeben hatten. Die 90-Jährige muss plötzlich lachen: "Mein Vater mochte die Saukartoffeln so gern. Die Bäuerinnen stellten ihm immer welche hin, mit Salz."

Die Liebe zu Kartoffeln hat Bertha von ihrem Vater geerbt. "Oft bin ich mit einem Lyonerring ins Stadthaus oder hinauf in den Turm der Oberen Pfarr, wo ärmere Familien wohnten. Ich wollte immer hin zu den vielen Kindern. Dort hab' ich dann Kartoffeln essen dürfen." Das Mädchen aus der Metzgerei tauschte auch in der Schule oft ihre Wurstbrote gegen solche mit Margarine oder Marmelade. Bis heute hat die Senioren eine Schwäche für Süßes und bekommt von ihren Enkeln, sieben an der Zahl, zum Geburtstag stets Schnapspralinen geschenkt. "Ich lebe richtig ungesund", gesteht sie. "Aber es schmeckt mir halt so gut."

Die 90-Jährige zeigt ein vergilbtes Foto, das 1946 entstanden ist: Sie steht mit Schürze vor der Metzgerei, zwischen zwei Tafeln. "Prima Regensburger", steht da. "Damals war eine Brandbombe in der Kupferstraße eingeschlagen: Sie ist zwar nicht losgegangen, aber alle Schaufenster waren kaputt. Also haben wir den Laden mit Brettern verkleidet. Alle Geschäfte sahen damals so aus."

Mit den Geschäftsleuten war das so eine Sache. "Jeder hat nur bei dem gekauft, der bei einem selbst gekauft hat. Du konntest niemals mit einer Reindl-Tüte zum Dick oder mit einer Maltry-Tüte zum Xaver Mayr." Bertha Bauers Tochter weiß noch, dass es ihr verboten war, zum Merkur zu gehen. "Der kauft uns nichts ab", meinte der Großvater nur.

An einem Pfingstsonntag im Mai 1947 heiratete die Metzgerstochter Lorenz Bauer, den ehemaligen Metzgerlehrling, der aus dem Krieg heimgekehrt war. "Ich war eine schöne Braut", erzählt sie, und ihre alterstrüben Augen leuchten auf. "Auf dem Standesamt trug ich ein kariertes Dirndl, und das Brautkleid war aus Vorhangstoff genäht. Der lange Schleier war geliehen." Gefeiert wurde im Hinterhof mit 30 Gästen.

Nach den Kriegsjahren verstanden es die Ingolstädter zu feiern: Es gab viele Schwarz-Weiß-Bälle, für die man sich fein herausputzte. "Ich hatte jedes Jahr ein neues Abendkleid." Im Fasching ging es richtig rund, denn viele Innungen richteten Bälle aus. "Ich war mit der Riebel-Traudl befreundet, die Faschingsprinzessin war." Auch ins Theater gingen die Schanzer gern, das übergangsweise im Saal des Rappensberger Kellers untergebracht war. "Zu den Vorstellungen musste jeder Besucher Holz zum Heizen mitbringen."

Der Aufschwung kam, und mit ihm die Eröffnung der zweiten Metzgereifiliale, die Am Stein direkt an der damals noch viel befahrenen Bundesstraße lag. "Da lief es von früh bis spät: "Die Verkäuferinnen und Mitarbeiter der umliegenden Behörden holten sich ihre Brotzeit bei uns, ebenso die Omnibusfahrer und Postler", erzählt Bertha Bauer. "Wir belieferten die Auto Union und die Motomak mit Würstln, die Maul-Klinik und das städtische Krankenhaus."

Das Geschäft brummte: "Die Leute haben ihren neuen Wohlstand in Lebensmittel investiert." Am Stein öffnete der erste Supermarkt seine Pforten. An den Spruch "Keine Feier ohne Meier", erinnert sich Bertha Bauer noch genau. Ihr Vater war empört, dass es dort auch Fleisch zu kaufen gab. "Dafür haben wir dann Emmentaler ins Sortiment aufgenommen."

Eine neue Zeit brach an. "Plötzlich verschwanden die alten Häuser, und es wurden diese modernen Kästen gebaut. Als die Verkehrsberuhigung kam, dachten wir, unser Geschäft geht unter." Aus der Auto Union wurde Audi, und die Bevölkerung Ingolstadts wuchs und wuchs. Bertha Bauer geht nicht mehr so gern in die Stadt, weil sie den Eindruck hat, niemanden mehr zu kennen. Was natürlich nicht zutrifft, denn sie gehört seit 60 Jahren zum Frauenbund und ist auch beim Kneippverein Mitglied. Es ist also davon auszugehen, dass es heute an ihrem Geburtstag richtig rund geht - so wie es die lebenslustige Ingolstädterin mag.