Ingolstadt in 90 Minuten

22.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:33 Uhr

−Foto: Johannes Hauser

Ingolstadt (DK) Eine halbe Stunde vor dem Anpfiff des WM-Spiels Deutschland gegen Ghana herrscht am Samstag reges Treiben in der Innenstadt. Aus allen Richtungen strömen Fußballfans, um noch einen Platz in einem der Cafés, Kneipen oder Biergärten zu ergattern, in denen Public Viewing angeboten wird. Durch die Straßen schweben die Stimmen der Fernsehkommentatoren, die die Startaufstellungen der Mannschaften bekannt geben. Ein Streifzug durch die Stadt.

AUFWÄRMPHASE
Kurz vor Spielbeginn ist die Stimmung beim Tagtraum entspannt. Vor einem Bildschirm vor dem Café am Paradeplatz sitzen Fans in Schaukelstühlen oder Sesseln und verfolgen die letzten Vorberichte. Der Lennard kickt noch ein bisschen mit einem Ball, bevor die Profis das Spielfeld betreten. Der Sechsjährige hat laut Papa alle Spielergebnisse auswendig im Kopf. Nur mit einem Tipp ist Lennard vorsichtig. „Das wird spannend“, prophezeit er.

ANPFIFF
Ein paar Meter weiter haben sich einige Gäste des Cafés Brezl’s in rote Decken eingemummelt, als um 21 Uhr der Anpfiff aus dem Fernseher ertönt. Los geht’s!

9. Minute
In der Rosengasse 2 wird die deutsche Mannschaft in urgemütlicher Atmosphäre angefeuert. Unter einem weißen Zelt gucken die Fans auf eine Leinwand über einer Art Deutschland-Altar mit jeder Menge Fähnchen. Auf dem Grill brutzeln Steaks, Chefin Krystyna Michalski verkauft Amerikaner mit schwarz-rot-goldener Glasur. „Weil wir hoffen, dass Deutschland gewinnt“, erklärt sie. Noch tut sich im Spiel aber wenig.


23. Minute
Die Stadt wirkt mittlerweile wie ausgestorben. Das ändert sich, biegt man erst einmal in die Dollstraße ein – die Public-Viewing-Hochburg in Ingolstadt. Vor jedem Café, jeder Bar, jedem Restaurant stehen Fernseher. Erstmals an diesem Abend verspürt man Euphorie, als Rasseln und Trillerpfeifen zum Einsatz kommen. Hier jetzt noch einen Platz zu finden, ist eigentlich unmöglich.

34. Minute
Aber es gibt Alternativen – wenn man so ideenreich ist wie Bernd, Wolfgang und Josef. Sie haben es sich vor der Gaststätte Daniel gemütlich gemacht und ihr eigenes Public Viewing aufgebaut: Die drei sitzen vor ihrem „Fernsehwagerl“, ausgerüstet mit zwei Tablets, einem Ghettoblaster, Knabberzeug und Dosenbier. „Das machen wir seit der Champions League 2012, weil wir in München nie einen Platz bekommen haben“, erklärt Josef. Das „Fernsehwagerl“ ist seither auf Tour durch Bayern. „Der Vorteil ist, dass man nicht auf einen freien Platz angewiesen ist, von dem man vielleicht nicht gut sieht“, erzählt Wolfgang. 40. Minute
Vor der Hohen Schule ist es deutlich ruhiger. Spannung ist hier noch nicht aufgekommen. Einigen Gästen scheint es genauso zu gehen. Als der Schiedsrichter zur Pause pfeift, herrscht Aufbruchstimmung.

HALBZEIT
Nach 45 Minuten und zwei oder drei Halben Bier kann der Fußballfan schon einmal Hunger bekommen. In den Dönerbuden der Stadt herrscht Hochbetrieb. Ghanaische Fans wurden bisher keine gesichtet.

51. Minute
Der Schutterhof-Biergarten wirbt mit der stadtgrößten Leinwand. Das wirkt. Alle Bierbänke sind besetzt, die Stimmung trotzdem eher verhalten. Eine deutsch-französische Gruppe hat kurz vor 18 Uhr den letzten Tisch erobert. „Aber nur, weil da der Baum im Weg steht.“ Erst als Mario Götze das 1:0 schießt, herrscht Ausnahmezustand: Fans springen auf die Bänke und lassen ihre Schals kreisen. Die Franzosen bleiben sitzen. „Wir sind für Ghana“, lautet die Erklärung, „weil wir gegen Deutschland sind.“ Vier Minuten später dürfen sie jubeln. Trotzdem hält sich die Stimmung in Grenzen. „Wir gucken die WM zum ersten Mal hier und haben noch mehr erwartet“, gesteht einer der Burschen.

63. Minute
Auch im Glock’n-Biergarten ist nichts mehr frei. Als es plötzlich 2:1 für die ghanaische Mannschaft steht, herrscht kurze Schockstarre. „Das darf ja wohl nicht wahr sein“, fasst ein Gast den allgemeinen Gemütszustand zusammen.

71. Minute
Gerade rechtzeitig im Engelwirt im Bermudadreieck angekommen, gleicht Deutschland aus. Fast denkt man, die Fans würden gern in die Leinwand springen: In der kleinen Kneipe hält es keinen mehr auf den Stühlen, als Loblieder auf den Torschützen Miroslav Klose geschmettert werden.

75. Minute
„Auf geht’s, Deutschland, schieß ein Tor“, erklingt es aus dem voll besetzten Mo-Biergarten. Endlich kommt man richtig in Fußballlaune! Pfiffe, wenn die ghanaische Mannschaft stürmt und Beifall bei guten Aktionen der deutschen Verteidigung lassen erahnen, dass hier den Abend über mitgefiebert worden ist. „Wir sind nicht von hier, aber die Stimmung ist echt super“, erzählt Sarah. „Am besten finde ich, dass es hier so viele Fernseher gibt.“ Es gibt viel Applaus für die Deutschen, trotz des Unentschiedens, als das Spiel vorbei ist.

NACH DEM ABPFIFF
Nach 90 Minuten füllen sich Ingolstadts Straßen langsam wieder mit Menschen, die nach Hause fahren oder in die nächste Disco weiterziehen. Der sonst so beliebte Autokorso bleibt diesmal aus.