Ingolstadt
"In Europa ist Deutschland nur Mittelmaß"

Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen über Pressefreiheit, die Lage in der Türkei und Probleme in der Bundesrepublik

02.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:52 Uhr

Ingolstadt (DK) Die Reporter ohne Grenzen setzen sich für eine unabhängige Presse und freie Meinungsäußerung ein. Mit nahezu täglich aktualisierten Barometern zeigen sie auf, wo auf der Welt Journalisten und Blogger bedroht und verfolgt werden. Zum heutigen Tag der Pressefreiheit haben wir mit dem Geschäftsführer der Organisation, Christian Mihr (39), gesprochen.

Herr Mihr, immer häufiger werden Journalisten wegen kritischer Berichterstattung angefeindet oder gar verfolgt. Wie viele sind derzeit eingesperrt oder in Gewahrsam?

Christian Mihr: Die Zahlen dazu aktualisieren wir so oft es geht. Weltweit sitzen im Moment 147 professionelle Journalisten in Haft sowie 161 sogenannte Bürgerjournalisten. Darunter versteht man Menschen, die etwa einen Blog betreiben oder Inhalte über soziale Netzwerke verbreiten. In vielen Ländern, wo es der unabhängige Journalismus schwer hat, sind diese Kanäle sehr wichtige Instrumente.

 

In welchen Ländern wird am häufigsten gegen die Pressefreiheit verstoßen?

Mihr: Auf unserer Rangliste finden sich seit vielen Jahren die gleichen sechs Nationen ganz unten: Eritrea, Nordkorea, Turkmenistan, Syrien, China und Vietnam. Dort ist die Pressefreiheit täglich unter einem Druck, den man sich als Europäer gar nicht vorstellen kann. Das liegt natürlich vor allem an den politischen Regimen.

 

Besonders heftig abgerutscht im Ranking der Pressefreiheit ist zuletzt die Türkei. Wie bewerten Sie die dortige Situation?

Mihr: Das alles macht uns ziemlich große Sorgen. Früher wurden nur einheimische Journalisten bedrängt. Ich war selbst neulich beim Prozessauftakt gegen die leitenden Redakteure Can Dündar und Erdem Gül von der Zeitung Cumhuriyet - einer der bekanntesten Fälle. Diese Zeitung war einst der Inbegriff des unabhängigen und des investigativen Journalismus. Doch inzwischen sind auch ausländische Kollegen betroffen. Das gab es punktuell auch früher schon. Doch das nun erreichte Ausmaß treibt uns wirklich um. Vergangenes Jahr wurden mindestens 19 Journalisten und zwei Karikaturisten in der Türkei wegen Beleidigungsklagen des Präsidenten verurteilt. Noch im Jahr 2014 waren davon lediglich vier betroffen - das zeigt wohl recht deutlich die aktuelle Entwicklung in dem Land auf.

 

Sie sagten, Sie seien beim Prozessauftakt gegen Can Dündar und Erdem Gül gewesen: Würden Sie das Ganze als Scheinprozess bezeichnen?

Mihr: Natürlich, ganz klar. Die dortige Justiz befindet sich inzwischen auf einer Ebene, dass ich leider von einem politischen Prozess sprechen muss.

 

Was kann Reporter ohne Grenzen leisten, um sich für Journalisten und die Pressefreiheit einzusetzen?

Mihr: Wir nennen Namen und schaffen zunächst einmal Öffentlichkeit. Und die ist durchaus ein großer Schutz. Aber jenseits davon: Wir leisten auch Nothilfe. Das heißt, wir zahlen Haftkautionen, wenn Journalisten im Gefängnis sind, und finanzieren psychosoziale Beratung. Und im schlimmsten Fall unterstützen wir eben auch bei einer Flucht.

 

Ein weiteres Land, das den Deutschen recht nahe ist, ist Russland. Wie ist hier die Lage?

Mihr: Ich selbst habe lange in Russland gelebt. Deshalb verfolge ich die Entwicklung dort mit persönlichem Interesse. Freie Medien haben es sehr schwer in Russland, die Gleichschaltung unter Präsident Wladimir Putin wirkt. Fernsehsender wurden von Oligarchen gekauft und auf Linie gebracht sowie Zeitungen unter Druck gesetzt. Es war auch früher nicht selten, dass Inhalte in den russischen Staatsmedien aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Heute hingegen kann man beobachten, dass komplette Falschmeldungen verbreitet werden. Hier kann man von Propaganda sprechen. Die Medien werden für die Zwecke der Regierung eingespannt. Das ist ein sehr großes Problem.

 

Warum reagiert das demokratische Europa nicht schärfer?

Mihr: Im Falle der Türkei legt die Bundesregierung eine recht devote Haltung an den Tag, da sie auf die Türkei zur Lösung der Flüchtlingskrise angewiesen ist. Wir können sehen, dass hier deutliche Worte vermieden werden. Was die Bundesregierung problemlos machen könnte und auch sollte, ist die Namen von verfolgten und unterdrückten Journalisten zu nennen. Unter Partnern sollte das möglich sein.

 

Kommen wir zu positiveren Seiten der Pressefreiheit: Was macht einen Staat aus, in dem die Pressefreiheit gegeben ist?

Mihr: Da muss man nach Nordeuropa blicken. In Finnland oder in Norwegen gibt es eine große Medienvielfalt und der Zugang zu Behördeninformationen ist gut. Zudem ist die Infrastruktur vorbildlich; beispielsweise hat jeder einen Anspruch auf einen Breitbandzugang. Und es gibt keine Gewalt gegen Journalisten.

 

Sieht es denn in Deutschland schlechter für die freie Presse aus?

Mihr: Im europäischen Vergleich sind wir lediglich im Mittelfeld. Dafür verantwortlich ist, dass die handgreiflichen Übergriffe auf Journalisten im vergangenen Jahr sprunghaft gestiegen sind. 39 haben wir verzeichnet, etwa bei Kundgebungen von Pegida und anderen rechten Gruppierungen. Zudem sehen wir eine deutliche Zunahme der Massenüberwachung in Deutschland, was auch zur Einschüchterung möglicher Quellen führen kann - durch die Vorratsdatenspeicherung beispielsweise. Und letztlich wurde 2015 der Straftatbestand der Datenhehlerei eingeführt. Damit ist die Beschaffung und Verbreitung nicht allgemein zugänglicher Daten unter Strafe. Es ist unklar, ob man sich schon strafbar macht und kriminalisiert ist, wenn man etwa Daten von Whistleblowern veröffentlicht. Dieses Problem wird in Deutschland unterschätzt.

 

Fühlen Sie sich heute als Medienschaffender weniger wohl als noch vor einigen Jahren?

Mihr: Ich habe schon den Eindruck, dass die persönliche Bedrohung und auch die Anfeindungen in den vergangenen Jahren größer geworden sind.

 

Das Gespräch führte Christian Tamm.