In der Realitätsfalle

Großer Jubel: Donald Berkenhoff inszeniert den Science-Fiction-Krimi "Welt am Draht" am Stadttheater Ingolstadt

02.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:18 Uhr
Aufmarsch der Avatare: Das Ensemble des Science-Fiction-Krimis wird angeführt von Victoria Voss und Ulrich Kielhorn. Hinten: Peter Reisser, Sascha Römisch, Sarah Horak, Ralf Lichtenberg, Andrea Frohn, Martin Valdeig, Matthias Zajgier und Marc Simon Delfs. −Foto: Klenk

Ingolstadt - Am Ende fallen Schüsse.

Stiller überlebt. Auch wenn seine Welt aus den Fugen gerät. Am Ende sitzt einer am Klavier und spielt. Einer, der wie ein Mensch aussieht und nicht mehr wie ein Avatar. Während um ihn herum aufgeräumt wird und neue Updates laufen. Am Ende sind wir in der Realität angekommen - und endlich fügen sich alle losen Fäden zu einer Geschichte. Nur Stiller krampft und keucht und ringt mich sich. "Ich bin . . . ", japst, stottert, röchelt er. "Ich bin . . . " Der Rest ist Schrei. Und natürlich denkt man sofort an einen der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: "Ich bin nicht Stiller" - aus Max Frischs 1954 erschienenem Roman "Stiller".   Existenzielle Daseinserkundung hier wie dort.

Rainer Werner Fassbinder muss Frischs Zweifler Stiller im Kopf gehabt haben, als er 1973 seinen Film "Welt am Draht" drehte, eine Adaption des Romans "Simulacron-3" von US-Autor Daniel F. Galouye aus dem Jahr 1964. Im Original hieß der Protagonist noch Douglas Hall. Der höchst artifizielle Science-Fiction-Krimi nach dem Drehbuch von Reiner Werner Fassbinder und Fritz  Müller- Scherz diente nun als Grundlage für Donald Berkenhoffs Bühnenfassung für das Stadttheater Ingolstadt. Am Samstagabend feierte das Stück im Großen Haus viel beklatschte Premiere.

Ich bin nicht Stiller - das wird dem Helden der "Welt am Draht" bald erschreckend klar. Nicht der Stiller jedenfalls, der er zu sein glaubte. Leitender Angestellter im Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung und als solcher verantwortlich für Tausende von künstlichen Identitätseinheiten. Im IKZ arbeitet man an einer computergesteuerten Simulation der Welt, die dazu dient, Erkenntnisse über die Verhaltensweisen der Menschen zu sammeln, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Doch seit Professor Vollmer auf mysteriöse Weise zu Tode kam und Stiller seinen Posten übernahm, passieren merkwürdige Dinge. Menschen verschwinden und die Erinnerung an sie ist wie ausgelöscht. Die Chefin des Instituts mauschelt mit einem der Wirtschaftsbosse. Überall lauern Spitzel. Eine der künstlichen Einheiten rebelliert. Und Stiller leidet unter extremen Kopfschmerzen. Irgendwann kommt ihm der Verdacht, dass seine Welt auch nur eine Computersimulation ist. Und er selbst kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Mensch am Draht, eine Unit aus Bits und Bytes, Spielball einer höheren Macht.

Fast 50 Jahre ist der Film "Welt am Draht" schon alt und doch hat er kaum etwas an gesellschaftlicher und politischer Aktualität eingebüßt. Hellsichtig hatte Fassbinder die Dimension der künstlichen Welt hinterfragt. Mittlerweile hat die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts die Fiktion der 70er-Jahre überholt - sowohl auf technischem Gebiet als auch im Ausmaß der Paranoia, die mit dem Informationszeitalter, der Digitalisierung, der automatisierten Überwachung, den soziotechnischen Prozessen einher geht.

Regisseur Donald Berkenhoff hat in seiner Fassung alle Zeitbezüge getilgt und richtet den Fokus auf die Frage nach der eigenen Identität und auf die Manipulierbarkeit durch künstliche Intelligenz. Weil die digitale Erleuchtung im 21. Jahrhundert die Religion abgelöst hat, hat Berkenhoff das IKZ in einem säkularisierten Kirchenraum angesiedelt. In der steril weißen sakralen Architektur (Bühne: Fabian Lüdicke und Stefanie Heinrich) arbeiten die Forscher in weißen Overalls an hypermodernen Leuchttischen. Rechts die Kaffeebar mit Wasserspender, links ein knallrotes Sofa, hinten der Aufzug, davor eine Leinwand für Videoeinspieler oder Skype-Kommunikation. Das viele Weiß generiert perfekte Projektionsflächen für Bildschnipsel aller Art, Virtual Reality, Störsequenzen (Video: Bettina Reinisch). Weil Stillers Welt keine echte, sondern simuliert ist, agieren die Schauspieler wie Avatare: seltsam starr, mit reduzierter Mimik, roboterhaft, emotionslos. Dazu tragen sie Playmobil-Frisuren oder zitieren in ihrer Aufmachung (Kostüme: Andrea Fisser) berühmte Filmfiguren - wie etwa Victoria Voss, die als Institutschefin Siskins schwer an Elfenkönigin Galadriel erinnert, oder  Marc Simon Delfs als Columbo-Kojak-Hybrid.

Perfekt hat Donald Berkenhoff diese Computerspiel-Äs-thektik inszeniert. Mitunter treten da nämlich Defekte auf, wird ein Satz doppelt gesprochen, erstarrt eine Figur in der Bewegung. Eine Herausforderung für die Schauspieler,  künstlich und menschlich zugleich zu wirken. Schließlich wird das Rätsel um Stillers Welt erst am Ende offenbart. Das Stück jongliert mit den vielschichtigen Ebenen von Wahrnehmung und Bewusstsein - und das Ensemble spielt sich mit großer Präzision, Souveränität und Eleganz durch die Anforderungen der Spiegelwelt.

Den größten Applaus heimst zum Schluss natürlich Matthias Zajgier für seinen Stiller und dessen existenzielles Ringen ein. Aber alle sind hier zu loben: Olaf Danner, Sascha Römisch, Marc Simon Delfs, Ralf Lichtenberg, Martin Valdeig, Ulrich Kielhorn, Peter Reisser, Victoria Voss, Sarah Horak und Andrea Frohn setzen immer wieder kleine individuelle (auch witzige) Glanzlichter, aber wirken vor allem in ihrer synchron choreografierten Kompaktheit als interaktive Avatare.

Fast die wichtigste Zutat aber ist der Sound von Malte Preuss: Schließlich prägen Soundtracks das Computerspielerlebnis heute stärker als die Optik. Dieser Mix aus Musik, synthetischen Klängen, Atmosphärischem und Störgeräuschen bis zu Stillers unerträglichem Kopfschmerz-Sirren passt sich mit raffinierter Dynamik dem Spielgeschehen in den unterschiedlichen Phasen an.

"Game over" nach 100 Minuten und großer Applaus für eine exzellent gemachte, ästhetisch eindrucksvolle, bildgewaltige und rundum überzeugende Inszenierung.

DK


ZUM STÜCK
Theater:
Großes Haus, Ingolstadt
Regie:
Donald Berkenhoff
Bühne:
Fabian Lüdicke, Stefanie Heinrich
Kostüme:
Andrea Fisser
Sound:
Malte Preuss
Video:
Bettina Reinisch
Vorstellungen
bis 11. April, Einführungen im Foyer jeweils eine halbe Stunde vor Beginn
Kartentelefon:
(0841) 30547200

Anja Witzke