Ingolstadt
In der Mitte der Bildungslandschaft

Seit 20 Jahren gibt es die sechsstufige Realschule - die vier Ingolstädter Schulleiterinnen erzählen, wie sie sich entwickelt hat

25.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:33 Uhr
Direktorinnenrunde im DK-Verlagsgebäude (v.l.): Marion Chmielewski (Tilly-Realschule), Silvia Retzer (Fronhofer-Realschule), Camilla Hering (Gnadenthal-Mädchenrealschule) und Johanna Mödl (Ickstatt-Realschule). Die Schulleiterinnen erzählten von den Anfängen der sechsstufigen Realschule vor 20 Jahren und der Entwicklung dieses Schultyps bis heute. −Foto: Hauser

Ingolstadt - Es ist eine ungewöhnliche Zeit, in der Schulleiter alle Hände voll zu tun haben, und in der Gespräche eher über den Bildschirm stattfinden als persönlich.

 

Am Mittwochnachmittag aber kommen die vier Direktorinnen der Ingolstädter Realschulen auf Einladung des DK zu einem Austausch zusammen. Vor 20 Jahren nämlich ist die sechsstufige Realschule eingeführt worden. Seither hat sich einiges verändert.

Camilla Hering, Leiterin der Gnadenthal-Mädchenrealschule, beendete zu dieser Zeit gerade ihr Referendariat in Eichstätt, Johanna Mödl (Ickstatt-Realschule) befand sich in Elternzeit, Marion Chmielewski, Leiterin der Tilly-Realschule, stand am Beginn ihrer Karriere, während Silvia Retzer schon seit zehn Jahren an der Fronhofer-Realschule arbeitete, die sie inzwischen seit sechs Jahren leitet.

Die Schulleiterinnen erinnern sich bestens an den Wechsel. "Ich bin wohl am längsten mit der vierstufigen Realschule konfrontiert gewesen", sagt Silvia Retzer. Sie sei immer eine Befürworterin der sechsstufigen gewesen. "Über diesen Zeitraum entsteht eine ganz andere Beziehung zu den Kindern. " Gerade auf die jüngeren Schüler habe sie sich gefreut, die man nun von Anfang an in ihrer Entwicklung zu jungen Erwachsenen begleiten könne und nicht mehr nur in der Hochphase ihrer Pubertät - eine Einschätzung, die die anderen Schulleiterinnen teilen.

Camilla Hering, die aus Nordrhein-Westfalen stammt und für das Studium nach Bayern zog, kannte bereits den Übertritt auf die Realschule direkt nach der vierten Klasse, denn das war in ihrer Heimat NRW schon lange Standard. "Trotzdem gab es damals Lehrer - und die gibt es auch heute -, die lieber ältere Kinder unterrichten. "

Nicht nur mit dieser Umstellung mussten Realschullehrer vor 20 Jahren umgehen, es gab auch schlicht zu wenig Personal für eine Schulart, die nun zwei Jahrgangsstufen dazugewonnen hatte. In den ersten Jahren war das eine große Belastung für Lehrer und Schüler. Unterrichtsausfall ohne Ende, überlastete Lehrkräfte, volle Klassen - nein, wie ein Erfolgsmodell sah die R6 damals wirklich nicht aus.

In ihrer Not (oder vielleicht hielt sie es ja auch für eine tolle Idee) entwickelte Bayerns Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) den Plan, Forstbeamte als Lehrer in den Realschulen einzusetzen. Sie sollten dort zum Beispiel Biologie unterrichten. Auch Privatdozenten, die an den Universitäten keine feste Stelle bekommen hatten, wurde die Realschule als sicherer Hafen angepriesen. Diese Quereinsteiger besonderer Art brachten viel Wissen mit, aber kein Lehramtsstudium und damit auch keinerlei pädagogische Erfahrung. Das Experiment ging schief.

Silvia Retzer erinnert sich: "Da kamen teilweise hochgebildete Leute. " Physiker von der Universität zum Beispiel. "Die haben doziert und doziert. " Auch Förster versuchten an der Fronhofer ihr Glück als Lehrer. Vergeblich. "Die haben es nie lange ausgehalten. Ich glaube, die sind recht blauäugig auf diesen Zug aufgesprungen. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, den Stoff für die Kleinen aufzubereiten. Manche haben gleich in der ersten Woche die Segel gestrichen und die anderen nach einem halben Jahr. Das war nie ein Erfolgsmodell. "

Für die Hauptschulen, wie die Mittelschulen bis 2009 hießen, war die R6-Reform ein schwerer Schlag. Sie verloren reihenweise Leistungsträger an die Realschule oder bekamen sie gar nicht erst, da diese Schüler nun nach der Grundschule gleich auf die Realschule übertraten. "Am Anfang hatten die Hauptschulen sehr, sehr zu kämpfen. Das haben wir schon gespürt", erzählt Silvia Retzer. "Aber dann hat man bildungspolitisch die richtigen Fäden gezogen. Dass man an den Mittelschulen den Mittleren Bildungsabschluss erwerben kann, hat geholfen. " (siehe dazu auch den Artikel unten).

Johanna Mödl ist eine Verfechterin des dreigliedrigen Systems. Dieses gebe den Kindern die richtigen Perspektiven. Die Realschule - als Schule der Mitte - sei auch ein Vermittler. "Wir schätzen die Schularten neben uns wert. " Auch Hering ist es in Beratungsgesprächen mit Eltern wichtig zu betonen: "Die Schularten funktionieren nebeneinander. Es wird rübergewechselt, nicht runter. " Die Schüler müssten einen Weg finden, der im Moment für sie passt. Nur so können sie eine gute Schulerfahrung machen. Marion Chmielewski berichtet, dass sie bei den Eltern oft die Angst spüre, ob die richtige Entscheidung getroffen wurde. Letztlich sei aber ausschlaggebend, was im Sinne des Kindes ist. "Und wenn es sich sehr schwer tut, obwohl es fleißig ist, ist das nicht gut. "

 

Hat ein Schüler noch in der neunten Klasse Schwierigkeiten, kann laut Mödl auch der direkte Einstieg in den Beruf ein Weg sein. "Denn der Gesellenbrief entspricht der Mittleren Reife. " Ist ein Kind dagegen schon früh besonders gut in der Schule, sei es wichtig, klarzustellen, dass es ein Gymnasium besuchen könnte, meint Hering. Nicht wenige Eltern entscheiden sich auffälligerweise trotz der Gymnasialeignung ihres Kindes für die Realschule. Der ambivalente Ruf des (2024 auslaufenden) G8 mag da lange eine Rolle gespielt haben.

Die Realschule ist auch durch die Einführung des dritten Französisch-Zweiges aufgewertet worden, sagt Silvia Retzer. Dank der Option, über die 13. Klasse der FOS zur Allgemeinen Hochschulreife zu kommen, entscheiden sich viele für das, wie Marion Chmielewski es nennt, "entspannte Abitur". Als große Stärke der Realschule sieht Camilla Hering, dass Schüler an der Realschule doch - im Gegensatz zum Gymnasium - etwas mehr Zeit haben. Das glaubt auch Chmielewski: "Wir haben mehr Raum für die Persönlichkeitsentfaltung. Gerade durch Angebote am Nachmittag können Kinder ihren Interessen nachgehen. "

Laut Mödl ist auch die Nachfrage nach der Ganztagesbetreuung gestiegen. Das nimmt Retzer ebenfalls wahr: "Ein Ganztagesbetrieb wäre auch gut, um alle Schüler mitzunehmen. Es ist schade, dass wir das nicht leisten können. " Es fehlen Lehrerstunden, Räume oder Möglichkeiten für das Mittagessen.

Nicht nur beim Thema Nachmittagsbetreuung wünschen sich die Schulleiterinnen mehr Ressourcen. Auch, wenn es um die Förderung von Sprachkompetenzen geht. Viele Kinder mit Migrationshintergrund sähen sich mit Benachteiligungen konfrontiert, wenn ihre Sprachfähigkeiten nicht genügend gefördert würden. Johanna Mödl sagt: "Ich finde, es ist eine Stärke, dass wir an unserer Schule viele Kinder mit Migrationshintergrund haben. Diese Kinder brauchen aber Förderung. Dann haben sie auch eine Chance. "

Neben der Realschule leiste auch die Mittelschule viel für die Unterstützung von Kindern, die neu nach Deutschland gekommen sind und denen es an Sprachkenntnissen fehlt. Die "Sprint-Klassen" etwa fördern Kinder an Mittelschulen, die für die Realschule geeignet sind, bei der Sprache und der Integration.

Marion Chmielewski betont, dass sie sich nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund Ressourcen wünsche, um Sprachfähigkeiten zu fördern. Wegen der Digitalisierung nehme die Lese- und Schreibkompetenz generell ab - etwas, das unbedingt ausgeglichen werden müsse.

Die Digitalisierung werde auf der anderen Seite für den Schulalltag immer wichtiger. Chmielewski sagt: "Corona hat noch mal verdeutlicht, wo wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stehen und wo wir eigentlich sein sollten. " Dass sich dieser Prozess beschleunigt, wünschen sich alle Kolleginnen. Hering hofft, dass Konzepte, die jetzt durch den digitalen Unterricht entwickelt wurden, künftig in den Alltag des Präsenzunterrichts mitgenommen werden. Auch Johanna Mödl glaubt: "Wir sind jetzt an einem Schnittpunkt, an dem wir Bildung wieder neu denken müssen. "

DK

 

 

 

Christian Silvester, Laura Csapó