Ingolstadt
Immer locker bleiben

Der Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer erklärt, warum wir Deutschen häufig überängstlich sind

18.06.2012 | Stand 03.12.2020, 1:22 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Dioxin in Eiern, Ehec oder krebserregende Diesel-Abgase – zumindest einen Deutschen lassen solche Meldungen völlig kalt: Walter Krämer. Der Statistik-Professor von der Universität Dortmund hält vieles schlicht für Panikmache. Darüber hat er jetzt sogar ein Buch geschrieben: „Die Angst der Woche“. Warum wir uns seiner Meinung nach ganz grundsätzlich zu häufig fürchten, erklärt er im Gespräch mit unserem Redakteur Sebastian Oppenheimer.

Herr Krämer, sind die Menschen im Jahr 2012 grundsätzlich überängstlich?

Walter Krämer: Das sind sie weltweit. Wir machen uns viel zu viele Sorgen wegen aller möglichen Kinkerlitzchen und vermiesen uns dadurch unnötigerweise unser Leben.

 

Sind die Deutschen ein besonders ängstliches Volk?

Krämer: In der Tat, sie sind darin Weltmeister. Ich habe mal über elf Jahre – von 2000 bis Ende 2010 – ausgezählt, wie viele Panikmeldungen in deutschen und internationalen Tageszeitungen gedruckt werden. Da kam heraus, dass in der „Frankfurter Rundschau“ und der „Süddeutschen Zeitung“ viermal so viel Panikmeldungen gedruckt werden wie beispielsweise in „Le Figaro“ aus Paris oder „La Republica“ aus Italien.

 

Haben Sie auch einen Grund dafür gefunden?

Krämer: Dazu gibt es verschiedene Theorien. Eine davon geht zurück auf den Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. Der hat einmal die Theorie vom kollektiven Unterbewusstsein in die Welt gesetzt. Und nach Jung wäre das deutsche kollektive Unterbewusstsein immer noch geprägt – jetzt bitte nicht lachen – vom Dreißigjährigen Krieg. Damals kam ja in der Tat in wenigen Jahren ein Drittel der Bevölkerung durch Mord und Totschlag um. Und seitdem hätten die Deutschen jeden Moment das Gefühl, die Welt könnte untergehen. Diese Urangst ist laut Jung seitdem in unserem nationalen Charakter fest verankert. Das kann man nun glauben oder nicht.

 

Vor was haben wir Deutschen am meisten Angst?

Krämer: Vor allem vor Gift in Lebensmitteln. Sobald da irgendwo ein Billionstel Gramm Dioxin gefunden wird, steht ja bei uns einen Monat lang das öffentliche Leben still. Erinnern Sie sich nur an diese Riesenpanik im Januar 2011 (Anm. d. Red.: Krämer meint mit Dioxin belastete Eier). Wo ja nie auch nur die geringste Gefahr für irgendjemanden bestanden hat. Auch Ihre Zeitung hat sicher darüber berichtet.

 

Jetzt gibt es ja Menschen, die Null-Grenzwerte für Pestizide in Lebensmitteln fordern . . .

Krämer: Da könnte ich immer vor Zorn ausrasten! Wenn Leute zum Beispiel fordern, es dürfen in Babykost keinerlei Pestizide enthalten sein oder es darf da und da nichts an Gift drin sein. Jedes Gift der Erde – aber auch wirklich jedes – ist überall enthalten: in Muttermilch, in Butter, in Käse, in Brot und ihrem täglichen Kaffee. Punkt. Wenn auch nur in minimalen, mikroskopisch vernachlässigbaren Mengen. Aber es ist drin. Und irgendwann werden wir es dann auch finden, und es gibt die nächste Panik. Ganz einfach, weil die Leute nicht gelernt haben, den Begriff der Dosis mit einzubeziehen. Sie dürfen nicht fragen: „Ist ein Gift drin“ Das ist immer drin. Sondern: „Wie viel Gift ist drin“ und: „Ab wann könnte es für mich gefährlich werden“ Diese beiden Fragen werden leider viel zu wenig gestellt.

Wann ist für Sie eine Studie Panikmache?

Krämer: Also, wenn ich zum Beispiel so eine Studie lese – und das gab’s wirklich – „Herzinfarkt durch Mittagsschlaf“, wonach regelmäßig eine Stunde Nickerchen das Herzinfarktrisiko angeblich um 50 Prozent erhöht . . . Das ist doch Blödsinn! In der Regel haben da die Leute Korrelation und Kausalität verwechselt oder andere wichtige Hintergrundvariablen einfach übersehen. Was da an Schlamperei tagtäglich produziert wird, das geht auf keine Kuhhaut.

Welche Tricks gibt es, um unseriöse Statistiken und Studien zu erkennen?

Krämer: Es ist schwer, hier das Prinzip der Korrelation zu erklären. Aber wenn zwei Variablen in die gleiche Richtung laufen, dann muss es nicht unbedingt sein, dass die eine davon die Ursache für die andere ist. Ich erzähle Ihnen mal mein Lieblingsbeispiel. Es gibt bei Männern eine hohe negative Korrelation zwischen dem Einkommen und der Zahl der Haare auf dem Kopf: je weniger Haare, desto mehr Geld. Das ist tatsächlich so – im Durchschnitt. Aber jetzt zum Friseur zu gehen und sich eine Glatze scheren zu lassen hilft nichts. Das liegt daran, dass bei Männern mit zunehmendem Alter auch das Gehalt steigt. Und die Haare eben im Alter ausfallen. Das heißt: Die Haare haben mit dem Einkommen überhaupt nichts zu tun. Es ist eine andere Variable im Hintergrund, die diese Korrelation verursacht. Das kommt sehr, sehr oft vor – und liefert Stoff für alle möglichen Fehlalarme.

 

Glaubt man negative Dinge eher als positive?

Krämer: Es gibt schon so eine morbide Lust vieler Leute, sich selbst Angst zu machen. Es gibt Menschen, die genießen es, Angst zu haben – manche zahlen sogar Geld dafür. Etwa auf dem Jahrmarkt, in der Geisterbahn. Weil ihnen dieses Grusel-Gefühl so eine Art Adrenalin-Schock verpasst.

 

Fliegen Sie?

Krämer: Da bin ich Fatalist. Da sagen die Statistiken ja eindeutig, dass im Vergleich zu Eisenbahn oder Auto pro Passagierkilometer die wenigsten Leute ums Leben kommen.
 

Aber viele wissen das – und haben trotzdem Angst.

Krämer: Ein Grund, warum wir vor dem Fliegen Angst haben und vor dem Autofahren nicht, ist, dass wir im Auto das Gefühl haben, wir könnten den Fortgang der Dinge noch kontrollieren und uns aus eigener Kraft noch aus dem Schlamassel befreien. Im Flieger dagegen sind wir ausgeliefert – wir können gar nichts mehr tun. Und dieses Gefühl des Ausgeliefertseins erhöht das gefühlte Risiko ganz enorm.

 

Wir versuchen uns immer mehr abzusichern – führt das auch immer zum Erfolg?

Krämer: Es ist tatsächlich so, dass Menschen ab dem Moment, ab dem sie glauben, sie wären sicherer dran, ihr Verhalten ändern und auf einmal riskanter agieren. In den USA gab es mal einen Bonus für Autos mit ABS-Systemen. Das wurde aber wieder abgeschafft, weil Autos mit diesen Systemen nicht weniger, sondern mehr Unfälle verursachten. Oder nehmen sie die Helmpflicht für Motorradfahrer in den USA – die ist in einigen Bundesstaaten vorgeschrieben, in anderen nicht. Dreimal dürfen sie raten, wo es mehr tödliche Verkehrsunfälle gibt – in den Bundesstaaten, in denen die Helme Pflicht sind. Das heißt, sobald jemand einen Helm trägt, fährt er unvorsichtiger. Dasselbe gilt auch, wenn man Radfahrer zwingt, mit diesen lächerlichen Helmen durch die Gegend zu radeln.

 

Ihrer Wortwahl ist zu entnehmen, dass Sie beim Radfahren keinen Helm tragen . . .

Krämer: Nein. Um Gottes Willen. Ich fahre vorsichtig und passe auf, dass ich nicht mit jemandem zusammenstoße oder gegen einen Baum fahre.

 

Aber sichert Angst nicht auch das Überleben des Menschen?

Krämer: Das stimmt, das habe ich auch in meinem Buch deutlich herausgestellt. Angst als solche ist für das Überleben unserer Spezies fundamental wichtig gewesen. Ohne Angst gäbe es die Menschen heute nicht. Bei unseren Vorfahren vor einer Million Jahre in den Savannen Afrikas, da gab es sicher auch Exemplare, die sind einfach stehen geblieben, wenn der Löwe nahte, und wurden gefressen. Das heißt, deren Gene haben sich nicht vermehrt. Vor Gefahren wegzulaufen oder Gegenmaßnahmen zu ergreifen ist genetisch extrem wertvoll gewesen und hat dazu geführt, dass es uns überhaupt noch gibt. Aber wir leben heute nicht mehr in den Savannen Afrikas. Und die ehemals wertvollen Automatismen, die bei uns sozusagen in unserem genetischen Apparat fest verdrahtet sind, sind heute sehr oft kontraproduktiv.

 

Gibt es auch Dinge, die Ihrer Ansicht nach verharmlost werden?

Krämer: Haufenweise. Nehmen Sie den Alkohol oder fettes Essen oder das Rauchen – Letzteres ist zwar inzwischen als Gefahr erkannt, aber es gibt immer noch genug Menschen, die freiwillig ein paar Jahre ihres Lebens opfern, nur damit sie Nikotin inhalieren dürfen. Das sind echte Gefahren, wo es ans Eingemachte geht – die uns aber in der Regel kalt lassen.

 

Vor was haben Sie persönlich Angst?

Krämer: Ich hatte schon öfter Panik. Das Schlimmste war, als ich mal auf unseren kleinen Sohn aufpassen musste und der auf einmal in so einem großen Einkaufszentrum verschwunden war. Da brach bei mir der Angstschweiß aus. Wenn es um unsere Kinder geht, habe ich immer Angst – etwa, dass ihnen im Straßenverkehr etwas zustoßen könnte oder sie in schlechte Gesellschaft geraten.