Ruppmannsburg
Im Viehwaggon ins Ungewisse

Horst Kunz erinnert sich an die Vertreibung aus dem Sudetenland – Nicht überall willkommen

03.12.2014 | Stand 02.12.2020, 21:54 Uhr

 

Ruppmannsburg (HK) Die aktuelle Flüchtlingsthematik ist für den 78-jährigen Horst Kunz aus Ruppmannsburg der Anlass gewesen, an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzudenken, als er und seine Mutter sich in Bayern ein neues Leben aufbauen mussten.

„In Bayern sind die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg überall herzlich aufgenommen worden“, hat der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer, bei einem Fernsehauftritt gesagt. Eine Aussage, die Horst Kunz nicht unkommentiert stehen lassen will. „Flüchtling zu sein ist ein Erlebnis, welches das ganze Leben prägt. Es kamen aber nicht nur Flüchtlinge nach Bayern, die meisten waren Vertriebene – doch damals wurden auch die Vertriebenen als Flüchtlinge bezeichnet. Für sie gab es den ,Flüchtlingsausweis’“, erinnert sich der 78-Jährige.

„Leider kennen auch die meisten Deutschen das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht wirklich“, bedauert er. „Ich selbst bin ein Vertriebener, als neunjähriges Kind mit meiner Mutter, Großmutter, Tante und Cousine aus Kaaden a. d. Eger (Sudetenland) vertrieben. Zunächst wurden wir aus der Wohnung in unserem Haus innerhalb von 15 Minuten hinausgeworfen. Wir durften auch keine Dokumente, Urkunden und so weiter mitnehmen, nur etwa 50 Kilogramm Gepäck pro Person. Provisorisch untergebracht wurden wir fünf Personen in unserem Haus in der Werkstatt meines Vaters, der Schneider war. Er war Soldat, von ihm hatten wir zu dieser Zeit kein Lebenszeichen. Meine Mutter arbeitete bei einem Fotografen in Kaaden und wir („durften“) mussten noch bis 1946 bleiben, da meine Mutter als Facharbeiterin galt. Im Mai 1946 mussten wir in das dortige Sammellager. Von dort ging es dann zum Bahnhof, wo wir mit etwa 40 Personen in einem Viehwaggon mit etwas Stroh und einem Kübel für die Notdurft „verfrachtet wurden“. Der Transport bestand aus 30 Güterwaggons, zusammen etwa 1200 Menschen – Frauen, Kinder und alte Leute. Die Fahrt ging ins Ungewisse. Ich kann mich daran erinnern, dass wir in Richtung Westen gegen Eger (heute Cheb) fuhren. Keiner wusste, wohin die Fahrt geht, entweder in die russisch oder die amerikanisch besetzte Zone Deutschlands. Unsere Befürchtung bestätigte sich, wir fuhren in Richtung russischer Zone, über Bad Brambach. Der Transport dauerte einige Tage. Letztendlich kamen wir im Quarantänelager Ilsenburg-Bakenrode an, wo wir untersucht wurden, auch auf Kopf- und Kleiderläuse. Auch wurde uns das giftige DDT-Pulver (Dichlordiphenyltrichlorethan) in die Kleider geblasen. Von dort wurden wir auf umliegende Orte verteilt. Wir fünf Personen kamen nach Dardesheim getrennt zu zwei verschiedenen Familien; meine Mutter, meine Großmutter und ich zu einer Familie, meine Tante und Cousine zu einer anderen Familie. Wir hatten das große Glück, dass mein Vater aus amerikanischer Gefangenschaft in Regensburg nach Bayern entlassen wurde und er bereits wusste, dass wir im Lager in Ilsenburg sind. Er konnte dann nach mehrmaligem Ansuchen die Zuzugsgenehmigung für meine Mutter und mich nach Bayern bekommen. Nach kurzem Aufenthalt im Zwischenlager Eisenach kamen wir Ende August 1946 bei meinem Vater in Wilhermsdorf an.“

In den Wohnungen der einheimischen Bevölkerung wurden von sogenannten Flüchtlingskommissaren Räume beschlagnahmt, in welche dann Vertriebene einquartiert wurden – meist mehrere Personen in einem Raum. Es ist deshalb verständlich, dass die Einquartierung eigentlich nicht besonders erwünscht war, denn es kamen ja Fremde, fast ohne Hab und Gut, erinnert sich Kunz und fragt deshalb: „Würde Martin Neumeyer Flüchtlinge herzlich aufnehmen, wenn in seiner Wohnung ein Zimmer beschlagnahmt wird und dann Fremde ohne das Nötigste und mit Kindern, einquartiert werden“

Schon mehrmals sei er gefragt worden, so Kunz, warum er und seine Familie aus einem so schönen Land ausgewandert seien. Eine andere Frage laute, was er für ein Gefühl habe, wenn er mal dorthin komme, von wo seine Familie ausgewandert sei. „Ausgewandert!!“ Ihm sei auch erzählt worden, dass Vertriebene sich anhören mussten, sie könnten ja nichts gehabt haben, sonst hätten sie etwas mitgebracht. Oder den Einquartierten sei gesagt worden: „Ich wäre nicht fortgegangen!“

„Das sagt sich alles leicht, wenn man von der Vertreibung keine Ahnung hat. Ich bin jetzt 78 Jahre und komme zu der Überzeugung, dass das Schicksal der Vertriebenen nur der wirklich begreifen kann, der es erlebt hat. Uns Kinder hielten die Erwachsenen von allem schrecklichen Geschehen fern (Misshandlungen, Vergewaltigungen – oft musste die ganze Familie zusehen, Erschlagen und Erschießen). Jetzt, wo wir alles wissen, und selbst Familie mit Kindern, Enkelkindern und Urenkeln haben, begreifen wir erst richtig, was unsere Mütter (die Männer waren ja meist vermisst, gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft) bei der Vertreibung erlebt und gelitten haben.

„Ich finde, am besten kann man die Vertreibung 1945/1946 so erklären, wenn man sich folgendes Szenario vorstellt: Sie wohnen hier in friedlicher Umgebung, Deutschland verliert den Krieg. Zunächst kommen die Russen, plündern und vergewaltigen die Frauen und Mädchen, Männer werden verschleppt und bleiben für immer verschwunden. Dann kommen die Tschechen, verjagen die Menschen von Haus und Hof mit nur bis zu 50 Kilogramm Gepäck in 15 bis 30 Minuten. Sie kommen in ein Sammellager, dort wird das Gepäck durchsucht und brauchbare Sachen werden herausgenommen. Wenn das mehrmals passiert, was bleibt da noch Brauchbares übrig? Und dann muss man sich Vorhaltungen anhören, wie: „Ihr könnt ja nichts besessen haben, sonst hättet ihr etwas mitgebracht!“