Im Sog der Begierde

18.11.2007 | Stand 03.12.2020, 6:20 Uhr

Verschlungen werden von der Gier der Körper: Manuel Boecker und Julia Koschitz spielen in Ingrid Cannoniers Inszenierung alle Paare aus Arthur Schnitzlers "Reigen". - Foto: Altstadttheater

Ingolstadt (DK) Der Automat ist der Clou: Nicht nur, weil er in scheinbarer Zufälligkeit immer neue Paarungen auswählt, sondern weil er natürlich ein exzellentes Bild ist für das Spiel mit der Liebe, einen gewissen Suchtfaktor, den der Spieler mit der Zeit entwickelt und die bohrende Hoffnung des Abhängigen auf Gewinn.

In zehn Dialogen wiederholt sich das Ritual der Verführung: Begegnung und Begehrlichkeit, Werbung und Widerspruch, Trieb und Lüge, Vereinigung und Ernüchterung, Verwandlung und Flucht in ein neues "experimentum amoris". Je höher die Probanden in der sozialen, gesellschaftlichen Skala angesiedelt sind, desto komplexer sind die Dialoge, desto komplizierter die Affären.

Schnitzler ("etwas Unaufführbareres hat es noch nicht gegeben") ließ das Werk 1900 auf eigene Kosten drucken, es ging als "unverkäufliches Manuskript" an Freunde. Schriftstellerkollege Rudolf Lothar ließ wissen: "Wenn ich kann, werde ich mir das Buch in zarter Frauenhaut binden lassen." Es gab einen Skandal, einen Prozess, Ausschreitungen, ein Verbot – und einen Freispruch. Doch Schnitzler selbst untersagte alle Aufführungen. Eine Entscheidung, die vom Urheberrecht geschützt war. Erst in den 80er Jahren wurde das Stück für die Bühnen verfügbar.

Ingrid Cannonier hat für ihr Altstadttheater nun eine sehr reduzierte Form gewagt: Nur zwei Schauspieler spielen und lieben sich durch alle Rollen – Julia Koschitz als Urbild all dieser Frauen, Manuel Boecker als ihr männlicher Gegenpart. Ein interessantes Konzept legt die Regisseurin vor, die das Stück verknappt, musikalisch anregend und behutsam modernisiert ins Heute holt: die stete Suche nach der Glücksverheißung, die die körperliche Nähe der Seele vorgaukelt, und das Erwachen nach der schnellen Nummer an der Donau, im Hotel (Bühne: Claudia Rühle). Und doch vermag die Inszenierung nicht zu überzeugen.

Das mag zum einen daran liegen, dass Manuel Boecker in seiner Kunst der Darstellung bei weitem nicht an Julia Koschitzs Intensität heranreicht – was im Spannungsverhältnis der Figuren zu einem erheblichen Verlust an Reibung und emotionaler Vielschichtigkeit führt. Zum anderen aber arbeitet Ingrid Cannonier mit zu starken Überzeichnungen (das Stubenmädchen bekommt einen osteuropäischen Akzent, der Dichter – in dem sich Schnitzler selbst skizziert – ist mit allzu großer Brille und Schwärmerei nur eine Karikatur), die für den intimen Raum viel zu lärmig wirken und immer wieder Gelächter hervorrufen. Aufflackerndes Rotlicht in sprachlosem Dunkel ersetzt Schnitzlers bedeutsame Reihung von Gedankenstrichen, erscheint aber als Zeichen für den (erfolgreichen) Geschlechtsakt zunehmend platter. Hintersinniger und gewitzter ist da schon das Spiel mit dem roten Vorhang, der mal den Treuebruch verbirgt, mal das kuschelige Ehebett wärmt.

Natürlich hat die ewige, hastige Wiederholung des vagabundierenden Verlangens, in dem sich die Figuren aneinander abmühen, sich verfehlen und in Abgründe stürzen, auch eine komische Qualität, aber der Grundtenor dieser flüchtigen Begegnungen ist ein zutiefst herzschwerer. Immer wieder diese drängende Frage: "Sag, liebst du mich" Diese Selbstvergewisserung, diese Angst, diese Scham, diese Not. Allzu lau wird das hier abgetan. Wie es hätte werden können, sieht man an den zwei stärksten Szenen: die Unterhaltung zwischen dem Ehepaar – sie kommt gerade aus den Armen des Geliebten, er wird gleich einen Teenager verführen – bringt all das Ungesagte zwischen den Zeilen zum Klingen, erzählt sehr präzise von den Sehnsüchten, vom Alltag, vom Unverstanden- und Alleingelassensein. Und das Anschlussbild führt klar vor Augen, dass es nicht nur um Sex, sondern auch um Macht und Missbrauch geht.

Am Ende erlischt der Spielautomat und mit ihm die Hoffnung. Den Jackpot hat wieder keiner geknackt.