Eichstätt
Im schwarzen Licht von "Auschwitz"

Moraltheologe Bernhard Sill führt Studenten nach Auschwitz Edition des Lagertagebuchs eines Jesuiten

26.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:16 Uhr

Seit dem Jahr 2007 fährt der Eichstätter Moraltheologe Bernhard Sill (2. von links) regelmäßig mit seinen Studenten nach Auschwitz; nun edierte er das "Lagertagebuch" des ehemaligen Häftlings und Jesuiten Adam Kozlowiecki. - Foto: Buckl

Eichstätt (buk) "Die Stimme der wenigen noch lebenden Augenzeugen zu hören, ist eine ungemein bedeutsame Sache!" Dieses Credo veranlasst den Eichstätter Theologieprofessor Bernhard Sill seit einigen Jahren, regelmäßig mit seinen Studenten nach Auschwitz zu fahren und dort die Begegnung mit überlebenden Zeitzeugen zu suchen.

Seine Beschäftigung mit dem Thema Auschwitz führte Sill nun auch dazu, unter dem Titel "Not und Bedrängnis" das Lagertagebuch eines polnischen Jesuiten zu edieren, der in Auschwitz und Dachau interniert war - und diese Zeit überlebte: Es erschien soeben im Regensburger Pustet-Verlag.

Wie es seit dem Jahr 2007 zu den regelmäßigen Fahrten seiner Seminare in der Fakultät für Religionspädagogik kam, legt Sill in einem Beitrag dar, der kürzlich in der Uni-Zeitschrift "Agora" erschien: Demnach "brachte eine Studentin die Idee vor, die Lehrveranstaltung buchstäblich an Ort und Stelle zu halten". Der Titel des ersten Seminars dieser Art lautete: "Auschwitz" als verbindlicher ,Ortstermin' christlicher Ethik": Christliche Ethik könne und dürfe das Thema "Auschwitz" nicht umgehen, wenn sie "nach verbindlichen Maßstäben des Menschlichen" sucht, wie Sill ausführt.

Der Ort für Sills Seminare ist das fast direkt neben dem Stammlager Auschwitz gelegene 1992 entstandene "Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim" der Katholischen Kirche, das der Krakauer Erzbischof Kardinal Franciszek Macharski mit Unterstützung weiterer Bischöfe aus Europa errichtet hat. Es soll Menschen, die Auschwitz besuchen, unabhängig von ihrer religiösen Orientierung Gelegenheit zu Besinnung, Begegnung und Gebet einladen - eine Einladung zum "Schweigen und Hören auf die Stimme von Auschwitz". So sei es dem "geistigen Auge" möglich, die Welt "im schwarzen Licht von Auschwitz zu sehen". Sills Seminare finden dort jeweils kurz nach dem Winter- beziehungsweise vor dem Sommersemester statt.

Bei diesen Lehrveranstaltungen bietet regelmäßig auch Manfred Deselaers Workshops an, der 1997 in seiner Dissertation die Biografie von Rudolf Höss, Kommandant von Auschwitz, vorlegte, worin er sich mit der Frage nach der Schuld der "Täter" und der Realität des Bösen befasst.

Deselaers, wie Sill Jahrgang 1955, wirkt heute als Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz im Zentrum für Dialog und Gebet Auschwitz. Zusammen mit ihm legte der Eichstätter Moraltheologe nun eine Edition des "Lagertagebuchs" des Jesuiten Adam Kozlowiecki (1911 bis 2007) vor, der bis zum Kriegsende in den KZs Auschwitz und Dachau interniert war und nach dem Krieg als Lehrer und Seelsorger in Rhodesien wirkte, bevor er Erzbischof von Lusaka und Missionar in Sambia und 1988 zum Kardinal ernannt wurde.

Adam Kozlowiecki war bis zum Kriegsende in den beiden Lagern interniert und verfasste nach seiner Befreiung auf Wunsch seines Generaloberen aus dem Gedächtnis ein Tagebuch über die Zeit der Internierung aus der Perspektive eines katholischen Priesters, der aber offen zugibt, wie sehr er durch den Lageralltag abstumpfte, wie ihm Mitleid abhandenkam, welche schockierenden Erfahrungen er im Lager hatte: Etwa am 2. November 1940, als ihn ein guter Freund im Lager fragte, ob er nicht einmal einen Verwandten namens Czeslaw hatte? Der im Gefängnis in Saniok saß? Kozlowiecki "war elektrisiert" und bejahte: "Ja, was ist mit ihm" Die lapidare Antwort: "Er wurde erschossen." Der Tagebuchschreiber begann zu taumeln: "Das war mein Bruder ..."

Der von Sill und Deselaers edierte Text, aus dem Polnischen übersetzt von Herbert Ulrich und versehen mit einem Vorwort von Kardinal Reinhard Marx, ist eine erschütternde Lektüre voller erschreckender Episoden und Details. Sie zeigt, dass über das millionenfache Leid in den KZs Auschwitz und Dachau längst noch immer nicht alles gesagt wurde und bekannt ist.

Adam Kozlowiecki SJ: Not und Bedrängnis. Als Jesuit in Auschwitz und Dachau, Lagertagebuch. Hg. von Manfred Deselaers und Bernhard Sill. Friedrich Pustet Verlag Regensburg 2016, 688 Seiten, Preis 29,95 Euro.