Nürnberg
Im Google-Zirkel

Richard Wagners "Götterdämmerung" spielt in der Machtzentrale eines Medienkonzerns – Abschluss des Nürnberger "Ring des Nibelungen"

12.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:41 Uhr

Verkehrte Welt: Brünnhilde (Rachael Tovey) und Siegfried (Vincent Wolfsteiner) im Feuerring der bürgerlichen Biederkeit. - Foto: Olah

Nürnberg (DK) Tagesschau in der Pause: Während Sänger und Orchestermusiker sich die Füße vertreten, bricht eine Flut von Nachrichtenbildern über das Publikum herein, das im Saal des Nürnberger Opernhauses geblieben ist: Flüchtlingskrise, Syrien, Terroranschläge, Obama. Die Welt hört nicht auf sich zu drehen, nur weil 150 Jahre alte Wagner-Musik gespielt wird.

Sie zwingt zur Reflexion. Sie fordert zur Welthaltigkeit der Oper auf.

Für Georg Schmiedleitner, den Regisseur der neuen „Götterdämmerung“ am Staatstheater Nürnberg, ist das fast schon ein Kunstauftrag. Oper muss uns etwas angehen, sie muss heutig sein. Der „Ring des Nibelungen“ ist für diesen Anspruch ohne Frage geeignet. Der Kampf um Macht, die Herrschaft des Menschen über andere Menschen, das Gleichgewicht in der Natur – all das sind Themen, die in Wagners Opern-Dreiteiler verarbeitet werden und von immerwährender Aktualität sind. Und natürlich verbirgt sich im „Ring“ ein kleiner Moment ewiger Rätselhaftigkeit, der Raum bietet für unterschiedlichste Deutungen.

Der Drang zum Politischen durchzieht bei Schmiedleitner und seinem Bühnenbildner Stefan Brandmayr den gesamten Zyklus. Standen im „Rheingold“ Umweltkatastrophen (Zeichen einer aus den Fugen geratenen Welt) am Anfang der Tetralogie wird nun im Schlussteil die Flüchtlingskrise aufgearbeitet. Das geänderte Konzept mag kurzatmig wirken, zeigt aber auch, wie dehnbar „Ring“-Interpretationen sind – ein Zeichen für ein wirklich großes Kunstwerk.

Denn dem Regieteam ist eine wirklich bewegende und vor allem unterhaltsame Inszenierung gelungen. Wie dicht sie an das Publikum mit seinen Gedanken und Assoziationen heran möchten, zeigt bereits die Nornen-Szene am Anfang: Die Schicksalsfrauen erscheinen nicht im Nebel und in weiter Ferne, sondern mitten im Zuschauerraum, sie klettern über die Sitze, zwängen sich zwischen den Operngästen hindurch und wickeln nicht den Schicksalsfaden, sondern Tonbänder ab. Bis zum ultimativen Filmriss. Auf der Bühne ist Graffiti projiziert, „Welcome refugees“, aber auch Stopp-Hände: „Keep out“. Für Schmiedleitner spielt der Wagnersche Opern-Krimi in einer von Unheil und Katastrophen in Schieflage gebrachten Welt. Der neureiche Gibichungen-Clan lebt in einer modisch-durchgestylten Konzernzentrale über der ein großes „G“ schwebt, das verdächtig dem Google-Logo gleicht. Das schillernde Büroungetüm schiebt sich einmal bedrohlich über am Boden lagernde Obdachlose, die fast zerquetscht werden. Als Bootsflüchtlinge bei einer Feier plötzlich hereindrängen, werden sie von den Büroangestellten in weißen Hemden verprügelt. Und Siegfried drängt sich bei seiner „Rheinfahrt“ durch die Probleme dieser Welt, personifiziert durch Obdachlose und Asylanten. Die Gibichungen aus der Konzernzentrale dagegen sind adrett-langweilig und vergnügen sich mit brutalen Ego-Shootern auf der Großbildleinwand. Siegfried, in all seiner Naivität, passt zu ihnen wie die Faust aufs Auge. In bayerischer Lederhose, dick und klein, aber stark und erfolgreich, verbreitet er fast schon penetranten Daueroptimismus.

Schmiedleitner schildert mit viel Humor, wie Gibichungen-Arroganz auf Siegfried-Naivität trifft. Ein gefundenes Schauspielfutter ist das auch für die Darsteller. Besonders Vincent Wolfsteiner macht als Siegfried eine überwältigende Figur, agiert spielfreudig, witzig und singt mit durchdringendem, hellen Tenor und mit schier unermesslichen Kräften. Selbst gegen Rachael Tovey kommt er an, die über ein ebenso weich schimmerndes Piano verfügt wie über ein schmetterndes Fortissimo. Aber eigentlich sind fast alle Sängerdarsteller hervorragend besetzt: der balsamisch biegsam singende Woong-Jo Choi als Hagen etwa oder der düster timbrierte Jochen Kupfer als Gunther oder die erstaunlich differenziert agierende Roswitha Christina Müller als Waltraute. Ein grandioses Sängerensemble auf Weltklasse-Niveau, sängerfreundlich begleitet von Marcus Bosch am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg. Seine „Götterdämmerung“ ist außergewöhnlich, transparent, rhythmisch geschärft, oft voller Leichtigkeit und Humor, in den theatralischen Momenten manchmal fast schon zu gewaltig, aber doch ohne falsches Pathos. Allenfalls den Blechbläsern unterlaufen am Premierenabend zu viele Kiekser und Intonationsunschärfen.

Dennoch ein musikalisches Fest bis zum Happy End. Denn Schmiedleitner konzentriert sich in der letzten Szene weniger auf den Untergang Walhalls als auf den Beginn einer neuen Ära, die für ihn viel mit den Neuen Medien zu tun hat. Brünnhilde und die Rheintöchter twittern begeistert vom Neubeginn, während im Hintergrund Demonstranten Handys mit der brennenden Götterburg hochhalten: Rettung aus dem Netz. Ein zeitgemäßer, moderner „Ring“, spannend, witzig, inspirierend ist das – auch wenn er sich vor lauter aktuellen Bezügen am Ende nicht ganz runden will.