Ingolstadt
"Ich unterrichte Spaß"

Der Iraker Munir Jassem war einst Profisportler heute arbeitet er in mehreren Ingolstädter Schulen

17.05.2017 | Stand 02.12.2020, 18:07 Uhr

Tipps vom Profi: Die Fünftklässlerinnen an der August-Horch-Schule lernen bei ihrem Lehrer Munir Jassem nicht nur, mit dem Ball umzugehen. Er hilft ihnen auch, über den Sport an Selbstvertrauen zu gewinnen. Dafür lässt er sich auch mal im Basketball besiegen. - Foto: Hammer

Ingolstadt (DK) Munir Jassem unterrichtet an mehreren Ingolstädter Schulen Sport. Außerdem arbeitet er als Tischtennistrainer in mehreren Vereinen in der Region. Er kann auf eine Menge Lebens- und Sporterfahrung zurückgreifen.

Wenn im Sportunterricht an der August-Horch-Schule zwei Schülerinnen gegen ihren Lehrer im Basketball antreten, wissen die Zuschauerinnen nicht, wem sie den Sieg mehr gönnen sollen. Und so schallen abwechselnde Anfeuerungsrufe durch die Turnhalle: "Anna! Herr Jassem! Jenny! Herr Jassem!" Jeden Korberfolg bejubeln die Fünftklässlerinnen, egal wer getroffen hat. "Ich unterrichte Spaß", erklärt Munir Jassem, und es sieht ganz so aus, als würde in seinen Sportstunden das Unterrichtsziel erreicht.

Seit vier Jahren arbeitet der Iraker an der Schule. Außerdem an der Herschelstraße und Auf der Schanz. Er weiß um das Selbstvertrauen, das Sport vermitteln kann - wenn man einen Korb gegen seinen Sportlehrer erzielt genauso, wie wenn man ein internationales Turnier gewinnt. Jassem kennt beides. Aufgewachsen im Irak (Jahrgang 1963) hat er sich früh dem Sport verschrieben. Zunächst probierte er es mit Schwimmen, trainierte hart. "Aber es hat mir keinen Spaß gemacht", erzählt er. Ein Handicap des rechten Armes schränkte ihn zu sehr ein. Der Linkshänder fand sein Glück im Tischtennis und startete - neben seinem Beruf als Sportlehrer - eine beachtliche Karriere. Im Irak war Tischtennis nach Fußball damals die populärste Sportart. Jassem brachte es zum irakischen Meister und gewann 1989 die arabischen Meisterschaften. Im gleichen Jahr trat er bei der Weltmeisterschaft in Dortmund an. Er wurde zum Nationaltrainer des Irak und von Jordanien.

Mit dem Überfall des Irak auf Kuwait und den Ausbruch des Golfkrieges Anfang der 1990er-Jahre änderte sich alles. Der Irak wurde von internationalen Turnieren ausgeschlossen, das Niveau des irakischen Tischtennis' sank unweigerlich. Später überwarf sich Jassem mit dem Sohn des Diktators Saddam Hussein, Udai, damals Chef des Nationalen Olympischen Komitees. Der Grund war offenbar, dass sich Jassem zu alt fühlte, um bei der Qualifikation für die Olympischen Spiele 2000 in Sydney als Spieler anzutreten. Die beiden unvorbereiteten Sportler, die stattdessen in die Qualifikation geschickt wurden, scheiterten. Daraufhin überfielen drei Männer Jassem in einem Park, schlugen ihn bewusstlos und zertrümmerten seinen gesunden linken Arm.

2003 kam der Krieg abermals über den Irak. Jassem entschied, zu fliehen und sich nach England durchzuschlagen. "Wegen der Sprache", erklärt er heute. So weit kam er allerdings nicht. Nach einer Autofahrt in die Türkei schmuggelte ihn ein Kurde mit zwei fremden Familien auf die Ladefläche eines Lkw Richtung Norden. Mehrere Tage war der Laster unterwegs, bis der Fahrer Jassem und die anderen plötzlich unweit von München neben der Autobahn absetzte. Alles, was ihnen blieb, war ein Zettel mit der Anschrift einer Asylbewerberunterkunft in Unterpfaffenhofen-Germering.

Nach zwei Wochen erfuhr er, dass beim nahe gelegenen TSV Tischtennis gespielt wird. "Ich bin einfach einmal hingegangen", erzählt Jassem. "Obwohl ich kein Wort Deutsch gesprochen habe." Dass die Sportler ihn hier freundschaftlich aufgenommen haben, vergisst Jassem nie. Sie haben ermöglicht, was danach kam. Der Iraker führte den Verein zum Aufstieg in die 1. Kreisliga. Andere Vereine wurden auf ihn aufmerksam. Er half ihnen als aktiver Spieler, bei der Talentsuche und beim Nachwuchstraining. Sein Ruf sprach sich herum, immer mehr Teams baten ihn um Hilfe. "Ich habe insgesamt für 65 Vereine gearbeitet", sagt er. Einige Spieler und Spielerinnen - etwa Sabine Winter oder Lena Kramm - begleitete er bis in den internationalen Spitzensport.

Man wurde sogar im fernen Syrien auf ihn aufmerksam. Jassem wurde als Nationaltrainer verpflichtet. 2011 floh er allerdings nach wenigen Monaten vor dem Krieg zurück nach Europa. Seit fünf Jahren lebt er in Ingolstadt. "Weil das in der Mitte Bayerns ist." Mit seinem Engagement will Jassem - er ist mittlerweile bei der Caritas angestellt - etwas zurückgeben, sagt er. "Mir haben so viele Menschen geholfen. Die Kinder haben mir zum Beispiel Deutsch beigebracht. Die Erwachsenen mit ihrem Dialekt habe ich nämlich nicht so gut verstanden."

Nach dem Unterricht klatschen sich Jassem und die Schülerinnen ab. Der Jubel ist groß. Fast, als hätten sie gerade eine Weltmeisterschaft gewonnen.