"Ich muss verlassen, was mein Zuhause ist"

03.04.2015 | Stand 02.12.2020, 21:28 Uhr
Ein Platz voller Erinnerungen: Auf Schwester Gerda Friedels Schreibtisch bei Regens Wagner Zell stehen zahlreiche Souvenirs. Zum 1. September muss sie diesen Schreibtisch räumen. −Foto: Bader

Zell (HK) Sie wollte in die Entwicklungshilfe nach Afrika, doch das Schicksal hat sie nach Zell verschlagen. Mittlerweile ist Schwester Gerda Friedel seit fast 40 Jahren bei Regens Wagner und hat aus der früheren Taubstummenanstalt eine moderne Einrichtung für behinderte Menschen gemacht. Zum 1. September wird Schwester Gerda jedoch Zell verlassen. Denn sie wurde zur künftigen Provinzoberin der
Dillinger Franziskanerinnen gewählt.

So ungeplant, wie Schwester Gerda Friedel einst nach Zell gekommen ist, so überraschend kündigt sich jetzt auch ihr Abschied an. Die 59-jährige Leiterin der hiesigen Regens-Wagner-Einrichtung hat sich in letzter Zeit zwar schon öfter mit dem Gedanken beschäftigt, dass sie ihren Chefposten in Zell eher früher als später aufgeben wird. Aber dass sich ihre Zukunft bereits beim Provinzkapitel der Dillinger Franziskanerinnen in der vergangenen Woche entscheidet und schon in fünf Monaten ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnt - damit hat sie nicht wirklich gerechnet.

Mit der Wahl zur neuen Provinzoberin steht aber fest, dass Schwester Gerda Friedel zum 1. September von Zell nach Dillingen wechseln wird. Ihr künftiges Amt ist der höchste Posten in der Regens-Wagner-Provinz der Dillinger Franziskanerinnen, bei denen es insgesamt sieben Provinzen gibt. Vergleicht man die Struktur des Ordens mit dem Freistaat Bayern, so wurde Schwester Gerda quasi zum mittelfränkischen Regierungspräsidenten gewählt. Sie wird damit verantwortlich für alle Schwestern, die in den Regens-Wagner-Einrichtungen leben und arbeiten.

„Schwester Gerda wollte das eigentlich nicht machen“, erzählt die amtierende Provinzoberin Michaela Speckner, die ihr Amt aus Altersgründen aufgibt, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Aber mein Blick war schon lange gerade auf sie gerichtet. Dass sie die Aufgabe übernimmt, das war unsere Wunschvorstellung.“ Umso glücklicher zeigte sich die amtierende Provinzoberin nun darüber, dass Schwester Gerda – wenn auch schweren Herzens – die Wahl angenommen hat. „Wir sind dankbar, dass sie uns ihr Ja gegeben hat für den Dienst in unserer Gemeinschaft“, schrieb Schwester Michaela in einer offiziellen E-Mail nach Zell. „Wir wissen, welche Auswirkungen dies für Regens Wagner Zell hat. Aber wir hoffen, dass sie sich auch ein wenig mit uns freuen können.“

Die Reaktionen in Zell sind aber alles andere als freudig. „Wir sind ganz schön geplättet und die Telefone sind in den letzten Tagen heißgelaufen“, sagt Norbert Müller, der stellvertretende Gesamtleiter. Für viele Mitarbeiter sei es einfach nicht vorstellbar, dass Schwester Gerda aus Zell weggeht. Bereits seit 26 Jahren sitzt sie dort auf dem Chefsessel, leitet die Geschicke der Einrichtung mit Schule, Werkstätten und zahlreichen Außenwohngruppen. Dass es ihr nicht leicht fiel, die neue Aufgabe anzunehmen, hat Norbert Müller in einem Telefongespräch nach der Wahl deutlich gemerkt. „Es hat mich erwischt, ich kann nicht aus“, so Schwester Gerda. Und sie habe dabei spürbar mit sich gekämpft. „So habe ich sie in all den Jahren nicht erlebt.“

Gerda Friedel stammt aus einer gläubigen katholischen Familie. Eine Tante von ihr war sogar Ordensfrau. Doch selbst eine Ordensfrau zu werden, das war für Gerda Friedel in jungen Jahren nie ein Thema. Als sie im Jahr 1981 dann aber doch beschlossen hat, Novizin zu werden, hat sie sich das daheim kaum sagen trauen. Denn für ihre Mutter war es unvorstellbar, dass ihre Tochter ein Ordensleben wählt. Wenige Tage vor ihrem Beitritt musste sie es schließlich den Eltern beichten. „Meine Mutter hat geweint, sie hat mich aus dem Haus geworfen, sie hat mich enterbt“, erinnert sich Schwester Gerda. Doch der Ärger hielt nicht lange: Bei der Einkleidung der frisch gebackenen Novizin war sie schon wieder versöhnt und dabei.

Als junge Frau wollte Gerda Friedel eigentlich in die Entwicklungshilfe nach Afrika. Doch nach einem Praktikum im Rahmen ihres Studiums der Sozial- und Religionspädagogik ließ sie Zell nicht mehr los, sie kehrte der Einrichtung von 1976 bis heute nie den Rücken – also fast 40 Jahre. Als sie damals anfing, gab es noch 40 Schwestern in der damaligen Taubstummenanstalt und nur zehn weltliche Mitarbeiter, zu denen anfangs auch sie gehörte. Heute sind es dagegen nur noch sechs Schwestern – doch dafür über 670 weltliche Mitarbeiter.

In ihren ersten Jahren traf Schwester Gerda in Zell auf zwei Menschen, die ihr Leben prägen sollten: Die Oberin Schwester Doris und die Schulleiterin Schwester Bosco. „Mit beiden habe ich mich schnell angefreundet, deshalb haben sie uns irgendwann die Dreifaltigkeit genannt.“ Ordensfrau zu werden, das konnte sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellen. „Aber ich wurde von den Schwestern immer wieder angesprochen, ob ich nicht auch ins Kloster gehen möchte – und dass sie genau dafür beten.“ Sie habe die Schwestern zwar bewundert, „aber ein Vorbild allein reicht nicht, das trägt nicht“, sagt Schwester Gerda.

Eine Fügung sei es gewesen, dass sie in dieser Zeit eine Freundin besucht hat, die den Zisterzienserinnen beigetreten war. Die dortige Äbtissin habe ihr danach in einem Brief geschrieben, dass nicht die Freundin, sondern sie in einen Orden eintreten sollte. „Ich habe den Brief immer und immer wieder gelesen“, erzählt sie. Langsam habe sich der Gedanke weiterentwickelt und der Glaube so sehr gefestigt, dass sie mit 25 Jahren beschloss, Novizin zu werden. Die anfänglichen Probleme mit ihrer Mutter kehrten sich schnell ins Gegenteil. Sie hat die Einrichtung selbst lieben gelernt und ihre Tochter regelmäßig besucht.

So kam also statt der von ihr in ihrer Jugend angestrebten Freiheit in der Entwicklungshilfe ein Leben, in dem sie sich ganz den drei Gelübden Gehorsam, Armut und Ehelosigkeit verschreiben sollte. Keines davon fiel ihr zu jeder Zeit leicht. Bei der Armut fing es an, wo sie sich doch immer gewünscht hatte, ihr eigenes Geld zu verdienen. Genauso wie die Ehelosigkeit und damit der Verzicht auf gelebte Sexualität. „Jeder Mensch braucht doch Zärtlichkeit“, sagt Gerda Friedel. „Wenn ich die nicht bräuchte, wäre ich irgendwie gestört – und das bin ich nicht.“ Was ihr hilft, ist die Aufmerksamkeit, die Liebe, die sie den Menschen mit Behinderung entgegenbringen kann. „Das ist Zuwendung – und eine Form der Zärtlichkeit.“

Gerade für behinderte Menschen da zu sein, das ist es, was Schwester Gerda von Anfang an an ihrer Arbeit fasziniert habe. „Und ich habe mit Schwester Doris und Schwester Bosco immer daran gearbeitet, das Leben für diese Menschen etwas lebenswerter zu machen und die Taubstummenanstalt „für die Zukunft fit zu machen und nach außen zu öffnen“, sagt sie. Das Ziel, die behinderten Menschen noch mehr in die Gesellschaft zu bringen, hat Schwester Gerda, als sie 1989 schließlich die Gesamtleitung von Regens Wagner Zell übertragen bekam, weiter vorangetrieben. Und sie rannte beim damaligen Bürgermeister Leo Benz mit ihrer Idee, in Hilpoltstein eine Außenwohngruppe aufzubauen, offene Türen ein. „Ihr seid uns willkommen“, sagte Benz damals. „Das hätte ich mir nicht träumen trauen.“

Auch heute noch ist Gerda Friedel mit ihrer Arbeit glücklich, da sie sehr viel anstoßen und realisieren kann. „Das hat aber den Nachteil, dass ich ständig im Büro sitze und statt dem persönlichen Gespräch mit behinderten Menschen und Mitarbeitern nur ein Termin nach dem anderen ansteht.“ Erst am Abend werde es stiller. „Dann kommen keine Anrufe mehr, dann kehrt langsam Ruhe ein“, sagt sie. Und dann sei sie den behinderten Menschen in ihrer Einrichtung auch am Nächsten. Zum Beispiel, wenn draußen vor ihrer Bürotür ein Bewohner vorbeigeht, um jemanden aus der anderen Wohngruppe zu besuchen. „Dann höre ich am Schritt, wer es ist. Dann weiß ich, dass er eine Stunde später wieder auf dem Rückweg ist, oder ich merke, wenn jemand vorbeigeht, nach dem ich später schauen sollte“, sagt sie.

Jetzt, mit 59 Jahren, dachte Schwester Gerda aber schon öfter ans Aufhören. „Eigentlich sagt man bei uns, dass niemand länger als zwölf Jahre in einer Leitungsposition sein soll – bei mir sind es jetzt schon 26 Jahre.“ Es werde deshalb Zeit für einen Nachfolger. „Spätestens Ende nächsten Jahres will ich aufhören“, sagt sie in einem Gespräch vor wenigen Wochen. „Dann werde ich gehen.“ Nicht, weil sie keine Ideen, keine Lust oder keine Kraft mehr habe, sondern „weil die Menschen mal ein anderes Gesicht brauchen“, sagt sie.

Ihr geplanter Rückzug sollte eigentlich ein radikaler Schnitt sein: „Ich gebe nicht nur die Leitung von Regens Wagner ab, ich werde auch von hier weggehen, werde nicht in der Einrichtung bleiben“, so Schwester Gerda. Es sei nicht gut, wenn ein Neuer die Aufgabe übernehme und der ehemalige Chef immer noch da sei. Dann kämen manche Mitarbeiter in einen Interessenkonflikt. „Doch dann muss ich das verlassen, was bis dahin über 40 Jahre mein Zuhause war – und hier habe ich doch schließlich meine Freunde“, sagt sie und hat kurz Tränen in den Augen.

Weit weg sollte es eigentlich sein: „Ich wünsche mir, dass ich ein paar Monate Auszeit bekomme“, so Schwester Gerda vor ein paar Wochen. Am liebsten wollte sie nach Assisi, dem Geburtsort des heiligen Franz von Assisi. Dem Mann, dem sie als Franziskanerin schließlich nachfolgt und der ihrem Orden seinen Namen gab. „Dann möchte ich dort einfach nur mithelfen und möchte die Zeit haben, nur für andere da zu sein.“ Doch das Provinzkapitel der Dillinger Franziskanerinnen hat jetzt einen anderen Lebensweg beschlossen für Schwester Gerda Friedel, die künftige Provinzoberin von Regens Wagner.