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"Ich mag dieses Gefühl, dass immer was passieren kann"

04.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:44 Uhr

Bis an die Grenzen des Wahnsinns verliebt sich der junge Rechtspraktikant Werther in Lotte. Aber die ist schon einem anderen versprochen. In der Ingolstädter Produktion spielt Benjamin Kneser die Titelrolle, Paula Gendrisch ist als Lotte zu sehen. - Foto: Olah

Als Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" 1774 erschien, avancierte er innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller. Goethe erzählt darin nicht nur eine tragische Liebesgeschichte, sondern fragt auch mit großer Dringlichkeit nach der Verantwortung für das eigene Leben. Eine Frage, die heute so aktuell ist wie vor 250 Jahren. Das Junge Theater Ingolstadt verhandelt sie mit großer Leichtigkeit und funkensprühendem Witz und einer Inszenierung, die Lust auf Klassiker macht. In der Titelrolle: Benjamin Kneser.

Herr Kneser, träumt man von so einer Rolle wie dem Werther?

Benjamin Kneser: Ich persönlich habe nicht davon geträumt. Eine meiner ersten Stationen als Schauspieler war das Volkstheater Bautzen, wo ich mehrfach in Inszenierungen klassischer Stücke gespielt habe. Anschließend arbeitete ich drei Jahre freiberuflich und war da mit Goethes "Torquato Tasso" konfrontiert, der übrigens erstaunliche Parallelen zum "Werther" aufweist. Auch sprachlich. Ich habe nichts gegen Klassiker. Ich liebe Kleist. Ich finde, Goethe schreibt oft undramatisch. Noch dazu handelt es sich ja beim "Werther" um einen einzigen großen Monolog. Aber Julia Mayrs Konzept, den Briefroman in ein dramatisches Stück umzubauen und ins Zentrum die ménage à trois zu stellen, fand ich sehr spannend.

 

Ist Ihnen der Werther aus der Ingolstädter Inszenierung nah? In seiner Unbedingtheit? In seiner Begeisterungsfähigkeit? In seinem Stürmen und Drängen?

Kneser: Der Zugang fiel mir nicht schwer. Werther hat so eine Grundaggression über die Verhältnisse, in denen der feststeckt. Er stammt zwar aus bürgerlichen Verhältnissen, aber er hat nicht die Fähigkeit, darüber zu reflektieren. Ich komme auch aus einem bürgerlichen Elternhaus. Aber meine Rebellenphase kam nicht in der Pubertät, sondern erst viel später, als ich auf der Schauspielschule war. Oje, was ich damals meinen Eltern für Vorwürfe gemacht habe! Jetzt bin ich 37 Jahre, habe ein Kind und weiß, dass es bestimmte Zwänge gibt. Darum finde ich es toll, den Werther jetzt zu spielen und seine Probleme mit meiner Erfahrung zu betrachten. Ich hoffe, ich habe die anderen bei den Proben nicht allzu sehr genervt mit meinen Fragen - was die Figur betrifft. Werthers Denken kreist nur um sich selbst. Er versteht nicht, dass es für Lotte keine andere Wahl gibt, als sich einen Mann wie Albert zu suchen. Sie braucht einen Versorger - vor allem für ihre Geschwister. Nach dem frühen Tod der Mutter trägt sie die Verantwortung.

 

Was mögen Sie an dieser "Werther"-Produktion?

Kneser: Vor allem den Humor. Etwa dieses Pingpongspiel im Mittelteil, wo existenzielle Fragen auf leichte Art verhandelt werden. Und ich hoffe, dass es Stellen im Stück gibt, bei denen sich die Zuschauer fragen, ob es zu Werthers Selbstmord nicht auch Alternativen geben könnte. Ob er zum Beispiel nicht tatsächlich als Freund in diese Beziehung integriert werden könnte.

 

Würden Sie sich Werther als Freund wünschen?

Kneser: Ich weiß nicht. Ich denke, so eine Freundschaft würde auch eine große Verantwortung bergen. Andererseits: Die Fragen, die er sich stellt, sollte  ich mir in meinem Leben vielleicht auch öfter stellen. Werther ist schonungslos. Seine Ruppigkeit und Ehrlichkeit sind auch sehr erfrischend.

Zur Goethe-Zeit war der Roman ein Bestseller und löste allenthalben ein Werther-Fieber aus. Man kleidete sich so wie Werther, besprühte sich mit Eau de Werther. Und weil es angeblich zu viele Freitod-Nachahmer gab, wurde das Buch in manchen Regionen und Städten sogar verboten. Was erzählt die Geschichte uns Heutigen?

Kneser: Ich glaube, Typen wie Werther gibt es heute zu wenig. Leute, die ausschließlich ihrem Herzen folgen und sich keine Gedanken über die Folgen ihres Handelns machen. Werther stellt alles infrage. Natürlich gibt es vieles im "Werther", das heute nicht mehr gilt - etwa die Ständegesellschaft. Wir haben überlegt, ob wir etwa die Szene bei Hofe rausnehmen sollen, aber sie erzählt eben auch viel darüber, dass Werther sich ausgeschlossen fühlt. Und das kennen wir doch alle: Wir wollen irgendwo ankommen, suchen nach Zugehörigkeit. Oft scheitern wir an ganz trivialen Grenzen. Wer Kinder bekommt, hat plötzlich neue Lebensrhythmen. Es gibt andere Erwartungshaltungen. Werther spricht davon, dass er ein Glied der liebenswürdigen Familie sein will. Aber es zerreißt ihn auch, weil er weiß, dass das total spießig ist. Und dass seine Vorstellung von Freiheit mit familiärer Verantwortung kollidiert. Da ist er mir nah.

 

Ist eine ménage à trois die spannendste aller theatralen Konstellationen?

Kneser: Sie ist klassisch. Denn drei ist immer einer zu viel. Für die Bühne ist es gut, wenn etwas nicht im Gleichgewicht ist. Wenn man kämpfen muss.

 

Haben Sie eine Lieblingsszene?

Kneser: Sogar mehrere. Ich mag die Eröffnung sehr - den Tagebuchmonolog. In der Stückentwicklung haben wir viel ausprobiert. Es ist ja wichtig, wie man beginnt, wie man das Publikum an die Geschichte heranführt. Auf der Probebühne hatten wir eine riesige Wand und vier Edding-Stifte. Und dann ging's los. Ich habe tausend Sachen ausprobiert und mich dabei ziemlich verzettelt. Am Ende gab es eine völlig aufgeblähte erste Szene - und die Erkenntnis: So geht es nicht. Dann habe ich mich einfach hingesetzt und  geradeheraus erzählt. Das hat funktioniert. Natürlich sieht man die ganze anstrengende Arbeit nicht. Aber für uns war es wichtig.

 

Die ganze Produktion lebt von vielen überraschenden Szenen: der Flirt zwischen Lotte und Werther, das merkwürdige Män-nerbündnis, auch der stumme Schrei am Ende, das ganz ohne lauten Schuss auskommt ...

Kneser: Ich mag auch die erste Pistolenszene. Denn da fängt der Konflikt an, gefährlich zu werden, bleibt aber trotzdem noch Spiel. Ich habe darum gekämpft, dass wir echte Platzpatronen bekommen. Jetzt kommt der Schuss vom Band, aber es geht ja darum, wie er die Situation auf der Bühne beeinflusst.

 

Sie spielen den Werther vor Schülern und im Abendspielplan. Unterscheiden sich die Reaktionen?  

Kneser: Sie unterscheiden sich tatsächlich. Ich muss gestehen: Vor den Schülervorstellungen war ich noch mal sehr aufgeregt - und habe deutlich mehr geschwitzt. Grundsätzlich sind die Reaktionen der Jugendlichen sehr viel direkter. Sie sind noch nicht so konditioniert auf das "richtige" Verhalten im Theater. Es wird an anderen Stellen gelacht. Und es tut sich mehr in den Gesichtern. Gerade die Szene, in der ich mich ins Publikum setze, macht in den Schülervorstellungen einfach viel mehr Spaß. Die haben gleich Lust loszudiskutieren. Ich mag am Jungen Theater dieses Gefühl, dass immer was passieren kann.

 

Bei der Premiere ist tatsächlich was passiert. Die Tür klemmte und ließ sich nicht mehr öffnen. Was geht einem in einem solchen Moment durch den Kopf?

Kneser: Das war nicht das einzige Mal. Mittlerweile haben alle drei Türen schon mal blockiert. Irgendwer donnert die Tür so zu, dass sie sich verzieht. Und dann kriegt man sie nicht mehr auf. Das ist natürlich eine Stresssituation. Man hat als Schauspieler zwei Möglichkeiten: Entweder macht man sich sofort im Kopf einen Plan. Leider läuft das Stück inzwischen weiter. Und wenn man einmal ausgestiegen ist, kommt man schwer wieder rein. Die andere Option ist, das Missgeschick als Chance zu begreifen. Philipp Hochmair, der den Werther über tausend Mal gespielt hat, hat in einem Interview mal gesagt: Bühnenunfälle sind Geschenke. Wenn du dich als Spieler darauf einlässt, wird irgendwas passieren - und was dabei spontan entsteht, passt meist sehr gut zur Szene. Das ist das Tolle am Theater. Es passiert jetzt. In diesem Augenblick.

 

Mussten Sie noch häufiger mit solchen Pannen kämpfen?

Kneser: Einmal war der Stift verschwunden, mit dem ich Lottes Silhouette nachzeichne. Ich wusste nicht, ob es irgendwo Ersatz gab. Gleichzeitig ist in der Szene auch nicht viel Raum, auf der Bühne rumzulaufen. Also nahm ich den Bleistift, den ich zu Beginn für meine Tagebuchaufzeichnungen benötige. Mit dem bearbeitete ich die Wand. Was ich nicht mitbekam, war, dass die Regieassistentin tausend Tode starb. Weil genau dieser Teil der Wand mit einem speziellen und sehr empfindlichen Lack überzogen ist, den man mit einem Bleistift zerkratzt. Leider ist der Lack auch sehr teuer. Und dann gab es mal eine Vorstellung, in der das Keyboard nicht funktionierte. Wir mussten unterbrechen - mitten in Werthers totaler Verliebtheit. Eine denkbar ungünstige Stelle.

 

Was gab es denn als Premierengeschenke beim "Werther"?

Kneser: Von unserer Regisseurin Julia Mayr bekam ich ein Buch mit bösen Witzen geschenkt. Weil ich doch im Stück Albert eine Zote erzähle. Und ich habe irgendwann man bemerkt, dass ich gern jede Vorstellung einen neuen Witz erzählen würde. Michael Amelung hat Paula Gendrisch einen Kalender mit kernigen Bauernburschen geschenkt. Und natürlich gab es "Werther's Echte"!

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.

 

Termine in der Werkstatt gibt es bis 27. April, neben zahlreichen Schülervorstellungen auch frei verkaufte Vorstellungen am 29. und 31. März und am 1. April jeweils um 20 Uhr. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.

 

 

ZUR PERSON

Benjamin Kneser studierte von 2003 bis 2007 Schauspiel an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz und gastierte bereits während der Ausbildung am Linzer Landestheater. Anschließend folgte ein festes Engagement am deutsch-sorbischen Volkstheater in Bautzen. Ab 2010 war er freischaffend. Seit der Spielzeit 2014/15 gehört er zum Ensemble des Jungen Theaters am Stadttheater Ingolstadt.