Pfaffenhofen
"Ich habe doppelte Sieg-Chancen!"

Die Mutter von Tatjana Kretzschmar ist Koreanerin, ihr Vater Deutscher - bei der WM drückt sie zwei Teams die Daumen

26.06.2018 | Stand 25.10.2023, 10:27 Uhr
Wenn Südkorea ausscheidet, dann jubelt Tatjana Kretzschmar für Jogis Jungs. Für den Fototermin hat sie eigens ihr 20 Jahre alte Hochzeitskleid aus dem Keller geholt, eine alte koreanische Tracht. Die deutschen Devotionalen von der letzten WM haben ihr Töchter auf dem Dachboden gebunkert. Was man alles so aufhebt. −Foto: Foto: Herchenbach

Pfaffenhofen (PK) Natürlich weiß Tatjana Kretzschmar, dass beim Fußball 22 Mann hinter einem Ball her sind, sie weiß auch, wer Manuel Neuer ist ("hoffentlich bleibt der fit") und Jérôme Boateng ("den fand ich immer gut, aber der spielt diesmal nicht mit, oder?"), aber ansonsten hat die Halb-Koreanerin mit Fußball nicht viel am Hut. Und dennoch genießt sie die WM. Wie das?

"Fußball", sagt die 45-Jährige Mutter von drei Töchtern, "ist eine positive Art von Nationalstolz. Und die Spiele sind die Utopie von einer positiven Welt. " Sport verbindet, es hat sie gefreut, dass süd- und nordkoreanische Athleten bei den Olympischen Winterspielen mit einer gemeinsamen Mannschaft angetreten sind. Ein Friedenssignal für ein Land, das seit dem Koreakrieg geteilt ist.

Tatjana Kretzschmars Mutter ist Koreanerin. 1968 ist sie nach Deutschland gekommen, um Medizin zu studieren, hat hier ihren späteren Mann kennengelernt, einen Tölzer, und mit ihm ein 200 Jahre altes Bauernhaus im Chiemgau gekauft. Dort, wo früher der Kuhstall war, haben sie das Restaurant "Zum Koreaner" eingerichtet. Quasi nebenbei, denn die promovierte Mutter hat sich als Hausärztin niedergelassen. Hier sind Tatjana und ihre Schwester aufgewachsen. Wie die Mutter haben auch die Töchter Medizin studiert, Tatjana Kretzschmar hat ebenfalls einen Doktortitel. "Koreaner sind sehr ehrgeizig, Bildung ist ganz wichtig. " Und auch wenn sie nie im Medizinbereich gearbeitet hat - das Studium war nicht umsonst. "Es ist auch eine Charakterbildung, und man lernt denken. " Kreativität hat sie gereizt, und deshalb ist sie in die Werbe- und PR-Branche gegangen. Jetzt hat sie sich als Künstlerin mit eigenem Atelier an der Nymphenburger Straße in München etabliert, bei der diesjährige Ausstellung der "Hallertauer Künstler" im Haus der Begegnung ist Tatjana Lee, so ihr Künstlername, mit einer Figur vertreten. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Malerei und dem Thema "Identität". Sie versucht in Gesichtern darzustellen, wie das Äußere das Innere beeinflusst und umgekehrt.

Ihre Kindheit im tiefsten Oberbayern hat die Wahl-Pfaffenhofenerin - ihr Mann arbeitet als Marketingleiter bei einem hiesigen Großunternehmen - akzentfrei überstanden. Sie fühlt sich als Bayerin, "ganz klar! " Nicht irgendwo auch als Koreanerin? "Na ja, vielleicht, was den Bildungs-Ehrgeiz anbelangt. " Koreanisch spricht sie "eher rudimentär", koreanisch kochen könne ihr Mann deutlich besser als sie. Typisch sei Kimchi, scharf-sauer eingelegter Chinakohl, oder Banchan, Gemüsebeilagen, die in kleinen Schälchen mit Reis serviert werden. Eine Delikatesse sind Seegurken, die für Feinschmecker die Trüffel der Meere sind.

Vom koreanischen Fußball weiß sie, dass sich die Mannschaft, die "Tigers of Asia", für die WM qualifiziert hat und in der Gruppenphase gegen Deutschland antritt. Ob die "Tiger von Asien" eine Chance haben? Eher wohl nicht. Auf der FIFA-Weltrangliste stehen sie auf Platz 57. Vielleicht auch deshalb, weil die Spieler-Legende, der koreanische Rekordtorschütze Cha-Bum-kun, der bis 1989 für Bayer Leverkusen spielte, schon lange seine Karriere beendet hat. An ihn kann sich die Pfaffenhofenerin erinnern.

"Aber wenn die Mannschaft nicht über die Gruppenphase hinauskommt, halte ich eben zum deutschen Team. " So wie das viele Südkoreaner gemacht haben, als die WM 2002 in Seoul ausgetragen wurde und sich die Tiger den vierten Platz erkämpften. Weil vergleichsweise nur wenige Fans aus Europa angereist waren, feuerten Koreaner auf den Rängen deren Mannschaften an. "Korea ist ein sehr gastfreundliches Land", sagt Tatjana Kretzschmar.

Auf diese Begeisterung freut sie sich: "Fußball ist ein Event, man kommt zusammen. " Das WM-Fieber hat sie noch nicht befallen, "aber irgendwann packt mich die Welle". Mindestens ab dem Viertelfinale schaut sie sich alle Spiele gemeinsam mit Freunden an, gern auch beim Public Viewing.

So, und jetzt das Foto. Ob sie einen Fußball hat? Nein, auf der Terrasse kullern drei Volleybälle. Sie selbst übt sich in Ilmmünster im Bogenschießen mit einem traditionellen Koreanischen Reiterbogen ohne Visier. Ihre drei Töchter Tamina, 12, Jaana, 16, und Tabea, 18, die das Schyren-Gymnasium besuchen, kramen im Haus nach landestypischen Utensilien. Eine Tischdecke mit Nachtigall-Borte? Teeschalen vielleicht? Schließlich kommt ihre Mutter aus dem Keller und erscheint in ihrem Hochzeitskleid, einer traditionellen koreanischen Tracht. Die drei Mädchen haben unterm Dach Jubel-Devotionalien von der WM 2014 entdeckt. Das passt. Denn Tatjana Kretzschmar sagt: "Ich habe ja doppelte Gewinn-Chancen! "
 

Albert Herchenbach