München
Horrorszenarien aus dem Cyberspace

Amélie Niermeyer inszeniert die deutsche Erstaufführung von Jennifer Haleys "Die Netzwelt" im Münchner Cuvilliéstheater

28.03.2016 | Stand 02.12.2020, 20:02 Uhr

Ganz daheim in seiner rentablen virtuellen Welt: Geschäftsmann und "Refugium"-Betreiber Sims (Norman Hacker). - Foto: Dashuber

München (DK) Mit einem geschulterten Beil schleicht ein psychisch Gestörter namens Woodnut (Marcel Heuperman) über die Bühne, Schlittschuhläufer drehen im Schneckentempo ihre Runden und hinter einem umgekippten Bürotisch wird ein Mädchen vergewaltigt und schließlich ermordet. Schülerinnen, in Internatskleidung oder in weißen Nachthemden und mit Regenschirmen ausstaffiert, müssen sich ebenso von Voyeuren begaffen lassen, wie in diesem seltsamen Szenario auch noch zahlreiche andere perverse und kriminelle Darstellungen aneinandergereiht sind.

Verwirrend ist das alles und verstörend sowieso.

Keine realen Szenen aus dem Alltag sollen diese Bilder nach Meinung der US-amerikanischen Autorin Jennifer Haley sein, sondern Horrorvisionen aus dem virtuellen Raum der Zukunft. Doch so fiktiv sind sie keineswegs. Schließlich hat sich ja bereits im Internet eine Fantasiewelt etabliert, die sich zweifellos zu einem Paralleluniversum weiter entwickeln wird, in dem jeder User anonym seinen geheimen Wünschen, verdrängten Obsessionen und sexuellen Begierden sich hingeben und sie ohne Rücksicht auf Gesetz und Moral auch erfüllen kann.

Die in diesem Theaterstück von einem Mr. Sims eingerichtete und ohne Skrupel betriebene Domain "Refugium" wird dank der Besucher der virtuellen Welt, die hier ihren Pornografie-, Gewalt- und Pädophilie-Abartigkeiten freien Lauf lassen dürfen, zum großen Geschäft. Doch als er von der engagierten Kripobeamtin Morris, die sich wegen des Verdachts auf kriminelle Handlungen in Sims' "Refugium" eingeloggt hat, verhört wird, weist er kühl und ohne jegliches Unrechtsbewusstsein alle Schuld von sich. Seine Domain sei schließlich reine Fiktionalität.

Einen betroffen machenden Blick in eine Zukunft, die eigentlich schon längst begonnen hat, richtet Haley mit diesem "Netzwelt"-Stück auf das verführerische digitale "Paradies", das in Bälde unkontrolliert für jeden und alle offen steht. Und Regisseurin Amélie Niermeyer analysiert in dieser deutschen Erstaufführung in kurzen, aber eindringlich arrangierten Szenen prägnant und bilderreich diese erschreckende Science-Fiction-Welt auf der symbolisch rotierenden Drehbühne des Münchner Cuvilliéstheaters.

Juliane Köhler, die ansonsten bei Weitem wandlungsreicher agiert, verkörpert hier sehr eindimensional die investigative, aber letztlich erfolglose Ermittlerin von Mr. Sims' kriminellen Machenschaften im World Wide Web, während Götz Schulte ihr als ein vom Leben enttäuschter Assistent zuarbeitet. Beide werden jedoch von dem berechnenden und aalglatten "Refugium"-Betreiber (Norman Hacker) hinters Licht geführt. Eindrucksvoll und anrührend zugleich gibt die Salzburger Mozarteum-Schauspielelevin Valentina Schüler die naiv-verschüchterte Kindfrau Iris ab, bei der ältere Herren und triebgesteuerte Jünglinge ihre sexuellen Fantasien exzessiv ausleben wollen.

Dazu werden ganz symbolisch Videos von mäandernden Flüssen, dunklen Wolkengebilden und austauschbaren Gesichtern von Computerfreaks auf einer Großleinwand über dem Bühnengeschehen eingeblendet. Und ein trefflicher Regieeinfall ist es zweifellos, dieses Schreckensszenario gerade im Rokoko-Kleinod des Cuvilliéstheaters abrollen zu lassen. Ein harter Kontrast, der zwei höchst unterschiedliche Welten widerspiegelt.