Demling
"Haben nur dieses eine Leben"

Markus Strasser begleitet Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen

28.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:07 Uhr

Therapie im Alltag: In der Sporthalle kommt Markus Strasser mit den Kindern beim Spielen am liebsten ins Gespräch. Sie können dort skaten, Fußball und Basketball spielen oder kickern. - Foto: Stephan

Demling (EK) Einst war der Strasserhof in Demling ein landwirtschaftlicher Familienbetrieb. Heute finden dort Kinder und Jugendliche, die sich in einer schwierigen Zeit ihres Lebens befinden, therapeutische Hilfe. Auch der Heilerziehungspfleger Markus Strasser begleitet dort betroffene Familien.

Die Geschichten der Lernwerkstatt für heilpädagogische Arbeit in Demling (Gemeinde Großmehring) und die der Familie Strasser sind eng miteinander verwoben. Ohne den Schicksalsschlag, der Markus Strasser und seinem Bruder Stefan im Frühjahr 1992 widerfahren ist, würde es die Einrichtung vermutlich gar nicht geben. "Im Nachhinein hat also jede Lebensphase etwas Positives gehabt", sagt Markus Strasser heute rückblickend. Auch deshalb sei es wichtig, diesen Teil seiner Vergangenheit zu kennen.

Der 38-Jährige sitzt in der Küche seines Elternhauses und erinnert sich an den Tag, als ein betrunkener Lkw-Fahrer bei Katharinenberg in das Auto fuhr, in dem seine Mutter und sein Vater saßen. Strasser war gerade einmal 14 Jahre alt. "Das war ein dramatisches Erlebnis für die Familie und das ganze Dorf", sagt er. "Alle waren mit der Situation überfordert und deshalb darauf fokussiert, dass der Betrieb weiterläuft." Für Trauer blieb da nicht viel Zeit - auch wenn "ich nie der große Bauer war", wie Strasser hinzufügt. Er lacht.

Zwölf Jahre lang hat er sich mit der Hilfe von Verwandten als Landwirt versucht, die Berufsschule besucht, seine "beiden linken Hände" trainiert, einen abgebrannten Mähdrescher verschmerzen müssen. Mit 27 fühlte er sich immer noch orientierungslos. "Ausschlaggebend war dann ein Praktikum in der Leistmühle, bei dem ich gemerkt habe, dass es viele Kinder und Familien gibt, die so orientierungslos waren wie ich", erzählt Strasser. Die Leistmühle bei Altmannstein ist eine Praxis für Psychotherapie, die ambulante Jugendhilfe leistet für Kinder und Jugendliche mit ihren Familien, die sich in schwierigen Lebensphasen befinden. "Das sind Kinder in Trauersituationen", erklärt Strasser. Diese Trauer hänge nicht nur mit dem Tod von Elternteilen zusammen. Auch Mobbing und Ausgrenzung in der Schule, überforderte Väter und Mütter oder Scheidungsfälle seien zu erwähnen: "Da geht es sehr um Ängste, dass ich es nicht schaffe, dass ich nicht gesehen werde."

Strasser stieg in ein "gut harmonisierendes Team" ein, machte in Ebenried eine Ausbildung an der Fachschule für Heilerziehungspflege und fing schon währenddessen an, den elterlichen Hof gemeinsam mit seinem Bruder zu einer Lernwerkstatt umzufunktionieren. Sechs Kinder fanden in der Leistmühle und dem Ableger in Demling Hilfe. Heute werden 40 Familien, die über das Jugendamt vermittelt werden, betreut. "Mir war wichtig, dass der Hof sinnvoll genutzt wird und ich Menschen helfen kann, die nicht wissen, wie es weitergeht", sagt der 38-Jährige. Seine eigene Geschichte hat er dabei immer im Hinterkopf: "Die Konfrontation mit den Schicksalen berührt mich selbst immer noch sehr. Aber auch, dass die Kinder die Kraft entwickeln können, schwierige Zeiten zu überwachsen."

Betroffene müssen Strasser zufolge den Mut finden, geliebte Dinge aus besseren Zeiten wieder zu verfolgen. Wichtig sei es, ihnen "den Blick auf alles Ungesunde" wegzunehmen und ihnen zu zeigen, was sie alles drauf haben. In Demling können sich die "Kids", wie Strasser gerne sagt, in dem zur Sporthalle umgebauten Maschinenstadel beim Fußballspielen oder Skaten austoben, sich handwerklich betätigen, Musik machen oder malen. "Stimmt, ich habe total vergessen, was ich eigentlich kann", sollen sie irgendwann wieder über sich selbst sagen können.

Und zwar ganz ohne den großen Leistungsdruck, wie er von der Gesellschaft häufig vermittelt werde. "Schicksalsschläge sind im perfekten Lebenskonzept einer Familie oft gar nicht erlaubt", merkt Strasser an. "Aber so ist das echte Leben nun einmal nicht." Jeder müsse sich manchmal mit einer schwierigen Sache auseinandersetzen. Die Frage sei nur: "Wie bewältige ich das" Im Mittelpunkt stünden da nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern. "Wir schauen, dass es jedem wieder gut geht und es die Familie gemeinsam mit dem Team schafft." Elternarbeit oder Vater-Sohn-Angebote seien je nach Fall genauso wichtig wie die Betreuung der Kinder selbst.

Gesprochen wird natürlich auch viel am Strasserhof. Über Erfahrungen, Ängste und Ziele. Aber nicht in einer gestellten Situation wie beim Psychiater, das ist Strasser ganz wichtig. Ein Kind öffne sich am besten beim gemeinsamen Kochen, beim Spielen, im Alltag eben. "Es ist okay, wenn sie mal explodieren, wenn etwas nicht funktioniert, und sie sagen, wie schlecht alles läuft." Aber nach dieser "Schimpfphase" müssten sie ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen. "Denn wir haben nur dieses eine Leben."

Zwei Jahre lang werden Kinder und Jugendliche im Normalfall am Strasserhof betreut. Und kommen ganz häufig wieder zurück. Aber nicht, weil die Therapie erfolglos war. "Wir gehen nach dieser Zeit meistens mit einem sehr guten Gefühl raus, wenn wir die Kinder zurück in die Normalität schicken", sagt Strasser. Gerade deshalb bleibe der Kontakt oft bestehen. "Es ist gut, wenn die Kids erst einmal sagen, dass sie ihr Leben jetzt selbst auf die Reihe kriegen wollen. Aber die Freude bleibt auf beiden Seiten, wenn man sich wieder einmal über den Weg läuft."