Gutachter: "Angeklagte hatte keine Wahnvorstellungen"

29.01.2009 | Stand 03.12.2020, 5:14 Uhr

Nürnberg/Roth (HK) Der zweite Tag im Prozess um den Mord im Rother AWO-Heim vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth ging gestern mit den Plädoyers zu Ende. Staatsanwalt Peter Adelhardt forderte zehn Jahre Haft wegen Mordes für die 34-jährige Angeklagte aus Eritrea. Ihr Verteidiger Wolfgang Reich will einen Freispruch.

Im Vordergrund der Verhandlung steht dabei die Frage nach der Schuldfähigkeit der psychisch schwer kranken Angeklagten. "Die Strafe ist nicht das Wesentliche des Verfahrens, das Wesentliche ist die Unterbringung", sagte Adelhardt in seinem Plädoyer.

Bei der Unterbringung in der offenen Abteilung des AWO-Heims habe man sich "schwer getäuscht", so der Staatsanwalt. Er forderte daher die Unterbringung der Angeklagten in einer psychiatrischen Klinik. Dagegen sperrte sich auch der Verteidiger nicht.

Die Asylbewerberin aus Eritrea soll am 18. Januar 2008 im Rother AWO-Heim eine 43-jährige Krankenschwester mit einem kleinen Obstmesser erstochen haben. Das Opfer sei arg- und wehrlos gewesen, so der Staatsanwalt.

"Es gibt keinerlei Zweifel, dass es die Angeklagte war, die den Stich mit dem Obstmesser gesetzt hat", sagte Adelhardt am Ende der Beweisaufnahme. Es gebe zwei Augenzeugen der Tat. Ein Heimbewohner hatte die getötete Schwester und die Angeklagte im Stationszimmer gesehen, das Opfer habe die Arme vor der Brust verschränkt und habe die zweite Pflegekraft um Hilfe gerufen. Ein anderer Heimbewohner habe die Angeklagte ins Stationszimmer gehen sehen und danach den Ausruf "Spinnst du! Hör auf!" gehört.

Die Angeklagte verfolgte das Plädoyer des Staatsanwalts mit gesenktem Kopf, aber ohne erkennbare Regung. Sie leugnete standhaft die Tat. Sie habe das Opfer am Tattag nur aus der Ferne gesehen.

"Die unmittelbare Tat hat kein Zeuge gesehen." Die Ansicht des Verteidigers Wolfgang Reich fußt auf den vielen äußerst widersprüchlichen Aussagen der Heimbewohner, die alle mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Vor Gericht erkannte eine Bewohnerin das Tatmesser nicht wieder, obwohl es wohl ihr Obstmesser war. Ein Patient will plötzlich sogar die Angeklagte über das Opfer gebeugt gesehen haben. Eine völlig neue Aussage.

Einig sind sich alle Zeugen – Heimbewohner wie Polizisten – nur darin, dass die Angeklagte nach der Tat apathisch und teilnahmslos gewesen sei. Ein Polizist hatte am Tatort das Gefühl, sie sei schuldbewusst.

Hoch aggressiv

Das würde laut Michael Wörthmüller, dem psychiatrischen Gutachter, dafür sprechen, dass die Angeklagte während der Tat zwar nicht klar bei Sinnen war, aber keineswegs schuldunfähig. Sie habe damals nicht an Wahnvorstellungen gelitten, sondern sei nach dem eigenmächtigen Absetzen eines Psychopharmakas gegen die innere Unruhe nur "emotional instabil" gewesen. Ein Zustand, in dem "ein geringfügiger Anlass einen heftigsten Aggressionsdurchbruch auslösen kann", sagte Wörthmüller. Es dauere zwar meist Monate, bis nach Absetzen der Medikamente eine erneute schizophrene Psychose ausgelöst werde, so Wörthmüller, aber das Aggressionspotenzial erhöhe sich schlagartig.

Wörthmüller hatte die Angeklagte zweimal persönlich gesehen, einmal kurz nach der Tat in der Bezirksklinik Ansbach und einmal später in einer Klinik in Taufkirchen. Beide Male hatte er nicht den Eindruck, die Angeklagte leide unter akuten Wahnzuständen.

Wie damals 2003, als sie in einer Asylbewerberunterkunft eine chinesische Kellnerin mit einem Brett ins Gesicht geschlagen hatte. Eine Vietnamesin soll sie mit dem Messer bedroht haben. Sie lief nachts oft ziellos durch Fürth, wusch sich nicht und verweigerte das Essen, aus Angst vergiftet zu werden. Sie hatte Halluzinationen und führte Selbstgespräche. Kurze Zeit später wurde sie stationär in ein Erlanger Klinikum eingewiesen, Polizei und Sanitäter brachten sie auf einer Trage fixiert.

Bereits 2002 war die Angeklagte wegen ihrer Wahnvorstellungen in einer Klinik untergebracht. Seit sie 15 Jahre alt ist, leidet sie unter dieser Psychose. Wörthmüller erzählte sie, sie habe auf einem Feld den Teufel gesehen.

Seither begleite er sie. Mit 18 heiratete die Angeklagte, dann brach in ihrer Heimat der Bürgerkrieg aus. Sie konnte wegen ihrer Wahnvorstellungen ihre beiden Kinder nicht mehr versorgen, ihr Mann flüchtete, sie kehrte zu ihren Eltern zurück.

Später flüchtete die Frau über Ägypten nach Deutschland, wo sie Asyl beantragte. Nach etlichen Klinikaufenthalten kam die Angeklagte 2004 ins Rother AWO-Heim, zunächst in die geschlossene Abteilung. Dort schlug sie eine Pflegerin und landete erneut in einer Bezirksklinik. Anfang 2005 wurde sie entlassen und kam wieder ins AWO-Heim nach Roth. Diesmal in die offene Abteilung zur Wiedereingliederung.