Nürnberg (DK) Seit die Nürnberger Bühnen zum Staatstheater befördert wurden, zeigen sie gerne künstlerisch Muskeln. Nach Richard Wagners "Ring"-Tetralogie und nach Bernd Alois Zimmermanns gigantomanisch-genialischen "Soldaten" eröffnet nun die Spielzeit unter neuer Intendanz erneut monumental: Mit Sergej Prokofjews Weltkriegsoper "Krieg und Frieden".
Angeblich 400 Kostüme hat das Theater eigens für die Aufführung schneidern lassen, rund 20 Solisten standen auf der Bühne, dazu Chor und Extrachor des Theaters sowie ein opulentes Orchester. Ein großer Start in die Ära des Intendanten Jens-Daniel Herzog - auch und besonders in künstlerischer Hinsicht.
Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" hat eine schwierige Entwicklungsgeschichte hinter sich, und sie steht nur sehr selten auf den Spielplänen der Theater. Das hat nicht nur mit den logistischen Anforderungen an den Theaterapparat zu tun. Denn die Oper, komponiert nach dem ebenfalls gigantomanischen Roman gleichen Titels von Leo Tolstoi, ist ein merkwürdiger Zwitter. Sie handelt vordergründig vom Leben des russischen Adels zu Beginn des 19. Jahrhunderts und von Napoleons Russland-Feldzug - also von den in Tolstois Roman erzählten Geschehnissen. Aber gemeint ist eigentlich noch etwas anderes: Der Krieg Hitlers gegen die Sowjetunion ab 1941. Genau in jenem Jahr auch begann Prokofjew mit der Arbeit an seiner kolossalen Oper. Und genau deshalb trieft das Werk auch stellenweise vor kämpferischem Patriotismus.
Jens-Werner Herzog denkt die Entstehungsgeschichte der Oper jederzeit mit in seiner Inszenierung. Sie ist verortet irgendwo in einem Fantasieland zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Funktionärsmief der Sowjetzeit. Ein eleganter Kunstgriff.
Was die Inszenierung allerdings herausragend macht, ist das Geschick, die Geschichte wirklich packend, verständlich und einleuchtend zu erzählen - was überhaupt nicht leicht ist. Denn Prokofjew und seine Librettistin (und spätere Ehefrau) Mira Mendelson mussten den episch angelegten, tausende Seiten langen, geschichtsphilosophischen Roman auf wenige Handlungsstränge verdichten. Herzog und sein Bühnenbildner Mathis Neidhardt lassen die Geschichte vor leicht verstellbaren schwarzen Wänden spielen, die blitzschnell umgebaut werden können und alles bedeuten können: Ballsaal und verruchter Adelssalon, das Schlachtfeld von Borodino genauso wie das brennende Moskau. Und vor allem eine Metapher für das dunkle, unglückliche Russland.
Um die Charaktere plastischer zu machen, lässt Herzog eine Art Nachrichtenband über den Bühnenhintergrund laufen, um mit wenigen Worten die Szene noch besser zu erklären. Das mag papiertrocken wirken und ist doch hochwirksame Orientierungshilfe in einer Oper, in der Spielplätze, Zeiten und Bühnenfiguren in Minutenschnelle wechseln.
Die dramatischen Bilder wirken so fast noch packender: Großen Eindruck macht, wenn im Krieg mit gewaltig in den Zuschauerraum stobender Rauchwolke eine Bühnenwand einbricht, wenn mitten in die intimsten Liebesszenen plötzlich Soldaten durch die Rückwand brechen und den drohenden Krieg ankündigen. Und wenn vor schwarzem Hintergrund im Walzerrausch das Liebespaar Natascha und Andrej über das Parkett wirbeln.
Während im ersten Teil der Oper das Schicksal der jungen Natascha, die zwischen drei Männern steht und auch noch reingelegt wird, sorgfältig psychologisch ausgeleuchtet ist, wird das große Kriegsgeschehen nach der Pause hektischer und holzschnittartiger erzählt. So bleiben besonders die wunderbaren Personenschilderungen im Gedächtnis zusammen mit Prokofjews packender theatralischer Musik, mit seiner beißenden Ironie, den tschaikowskyhaften Tänzen, den brutalen Bläsereinsätzen und den schneidenden Schlagzeug-Schlägen. Und die Sänger agieren in den 13 Szenen der Oper einfühlsam, sängerisch durchweg auf hohem Niveau. Herausragend die Natascha-Darstellerin Eleonore Marguerre, die mit klarer, unverbrauchter Stimme singt und unglaublich frisch und jugendlich spielt. Wunderbar der georgische Tenor Zurab Zurabishvili als Pierre, ebenso die hell timbrierte Stimme von Tadeusz Szlenkier, der den verruchten Anatol gibt, der volumiöse Bass von Nikolay Karnolsky (Feldmarschall Kutusow) und Jochen Kupfers als Fürst Andrej mit gediegenem Bartion.
Der eigentliche Star des Abends ist allerdings die neue Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz, die klar abgezirkelt dirigiert, mit viel Temperament und krachender Lautstärke die Schlachtszenen angeht und mit Eleganz die vielen Tänze der Oper veredelt. Zu Recht wurde Mallwitz nach der Premiere vom Publikum wie sonst niemand bejubelt.
Am Ende wandelt sich die Oper immer mehr zum Agitprop-Stück. Donnernde Chöre stacheln unverhohlen leidenschaftlich nationalistische Emotionen auf. Herzog und Mallwitz erzählen das ohne doppelten kommentierenden Boden, lassen dem Werk seinen propagandistischen Pomp und nehmen ihm so nichts von seinen krachenden Effekten. Tatsächlich: ganz große Oper zur Spielzeiteröffnung.
Jesko Schulze-Reimpell
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