Ingolstadt/Manching
"Göttliche Abendessen" und "Blumen der Donau"

06.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:59 Uhr
Sie haben französische Kriegsgefangenen-Lieder aus dem Ersten Weltkrieg neu belebt: Dominik Kögler (rechts) und Etienne Lechat. −Foto: Pehl

Ingolstadt / Manching (DK) 100 Jahre nach ihrer Entstehung haben Dominik Kögler und Etienne Lechat
zwei Lieder von französischen Kriegsgefangenen aufgenommen, die im Ersten Weltkrieg im Manchinger Fort
interniert waren. Eine Geschichte mit manchen Überraschungen.

„Kleine Blumen Ingolstadts, Kleine Blumen Bayerns; Ihr, deren Haarpracht des goldenen Bieres die Farbe hat.“ Diese Zeilen stammen nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, aus einem verschollen geglaubten Marsch von Adolf Scherzer. Vielmehr handelt es sich um die deutsche Übersetzung des Stücks „Depart du Fort VIII“ (Ausbruch aus Fort VIII)“, das Georges Henon (Musik) und Maurice Dubled (Text), zwei französische Kriegsgefangene, 1916 während ihrer Internierung im Manchinger Außenfort der Festung Ingolstadt geschrieben und getextet haben. Max Schuster, Geschichtslehrer an der Fronhofer-Realschule, hat mehrere dieser Lieder in einer alten Gefangenen-Zeitschrift wiederentdeckt. Jetzt haben der Pianist Dominik Kögler und der Sänger Etienne Lechat zwei neu arrangiert. Etienne Lechat ist in Ingolstadt kein Unbekannter.

Der gebürtige Franzose hat ein Vierteljahrhundert in Ingolstadt gelebt und ist vor vier Jahren nach Berlin gezogen. Er gibt Sprachunterricht und singt Chansons. Dominik Kögler ist Anästhesist am Klinikum, lebt mit seiner Familie in Demling und spielt als Hobby Klavier. „Die beiden Lieder wurden noch nie aufgenommen“, erzählen die beiden. Die Komponisten hinterließen außerdem keinerlei Hinweise, wie die Stücke denn zu spielen sind. „Wir mussten uns also Gedanken über die Interpretation machen“, erinnert sich Kögler, in dessen Zuhause auch die Aufnahmen stattfanden. Zuvor galt es jedoch, das Material zu rekonstruieren. „Die Blätter waren ziemlich unleserlich.“

 

Während Etienne Lechat in mühseliger Arbeit Zeile für Zeile übersetzte (was bis auf zwei auch gelang), kümmerte sich Kögler um die Noten, die schließlich Franz Zech, ehemaliger Leiter der städtischen Sing- und Musikschule, in den Computer eingab. „Die Stücke stammen von unterschiedlichen Komponisten und sind auch vom Typus her recht verschieden“, sagt Kögler. Ein Lied ist ein typischer Marsch mit vier Strophen, der gut sieben Minuten dauert. „Das war einfach für mich“, sagt Lechat: „Das geht leicht ins Ohr.“ Wie er erzählt, vergleicht „Depart du Fort VIII“ den Alltag im Kriegsgefangenenlager mit dem Leben in Frankreich. Es geht dabei – wenig verwunderlich – voller Poesie um das Wohnen, ums Essen und die Damenwelt, um sinnenfreudige Betten, „köstliche und göttliche Abendessen“ als Ende des Hungers und um die „Blumen der Donau“ namens Maria, Anna, Berta oder Julia.

Wie Lechat betont, hat ihn das Historische besonders beschäftigt, seit er mit Tom Gratza, einem Pianisten aus Augsburg, ein Programm zum Thema „Napoleon und Bayern“ konzipiert hat. Dennoch: „Das zweite Stück war ein Kampf für mich“, räumt Lechat freimütig ein. Das eher etwas träumerisch angelegte „Printemps“ (Frühling) hat keinen Refrain und erinnert an Ravel oder Debussy, weshalb hier das Klavier dominiert. „Das ist nichts für nebenher“, sagt er. Nachdem die Aufnahmen nun über die Bühne gegangen sind, würden die beiden Musiker die Stücke auch gerne öffentlich aufführen. Wenn alles klappt, könnte dies im Herbst gelingen. Der Historische Verein Ingolstadt hat das ganze Vorhaben von Anfang an unterstützt. Ohne Max Schuster wäre die Vertonung nichts geworden. Er ist Geschichtslehrer an der Fronhofer-Realschule und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Festung Ingolstadt und den Gefangenenlagern. „Durch den früheren städtischen Pressesprecher Gerd Treffer wusste man, dass es im Fort VIII eine Lagerzeitung gab, vermutlich auch anderswo“, weiß Schuster. Allerdings nur in wenigen Exemplaren und in schlechter Qualität.

Insgesamt dürften es wohl an die 300 Seiten sein – mit Texten, Liedblättern und Karikaturen. Nach der Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Stadtmuseum gelang es Schuster, aus Frankreich bessere Abzüge zu bekommen. Durch weitere Recherchen konnte er wertvolle Details zusammentragen. So steht jetzt fest, dass das Frühlingslied bereits 1916 im Lager Manching aufgeführt wurde. Gewidmet ist es dem Soldaten Paul Delaroche Vernet, von dem Schuster – eine kleine Sensation – sogar ein Foto fand. Weitere Infos im Online-Archiv des Internationalen Roten Kreuzes in Genf lassen diese Person fassbar werden. Paul Delaroche Vernet, Unterleutnant im 31. Infanterieregiment, war im Fort VIII in Ingolstadt interniert und schwer krank. Bereits am 20. August 1914 war er bei Coutery in der Nähe von Longwy verwundet worden. „Am 22. August scheint er gefangen genommen und nach Ingolstadt gebracht worden zu sein“, so Schuster. Er wurde am 18. Januar 1891 geboren und stammte aus Paris. Nach einiger Zeit im Fort VIII war er offenbar im Offiziersgefangenenlager Heidelberg und wurde am Kriegsende über Konstanz in die Schweiz rücküberführt.