" Giselle ist eins meiner Lieblingsballette"

02.05.2007 | Stand 03.12.2020, 6:47 Uhr

Ingolstadt (DK) Gerade eben auf der Bühne war er Herzog Albrecht. Jetzt, in der Garderobe, noch leicht verschwitzt, an den Füßen schon die entspannenden Riesen-Wärmepuschen, ist er freundlich bereit zum Interview: der charismatische Bolschoi-Star Sergey Filin. Ein Ballerino ohne Allüren. Sein Beruf, seine Kunst ist ihm zu wichtig. Schon als kleiner Junge wusste er, dass er Tänzer werden wollte. Seit 18 Jahren steht er auf der Ballett-Bühne, hat alle großen Rollen getanzt – und brennt immer noch vor Begeisterung. Unsere Mitarbeiterin Malve Gradinger sprach mit ihm.

Herr Filin, "Giselle", wenn es gut getanzt ist, kann man immer wieder sehen. Warum, Ihrer Ansicht nach?

Sergey Filin: Es ist sowieso eines meiner Lieblingsballette. Und wir tanzen dieses Ballett auch jedes Mal anders. Es ist nie das gleiche – deswegen ist es so "haltbar". "Giselle" wird ja auch von Generation zu Generation weitergegeben, gehört zu einem goldenen Fonds der Ballettkunst. Es ist inhaltlich sehr reich und interessant für Tänzer ganz verschiedenen Alters. Mit 20 tanzt man es auf eine Art, mit 30 auf eine andere Art. Und es ist ein sehr schönes Ballett über die Liebe, über Gefühle. Und davon fühlt sich auch das Publikum angesprochen.

In der Münchner Ballettwoche tanzen Sie morgen den Basile in "Don Quixote" . . .

Filin: Das ist eine ganz andere Vorstellung, was Energie und Dynamik betrifft. Das ist ein Ballett mit sehr vielen Virtuoso-Sprüngen, -Drehungen und feurigen Charakter-Tänzen. Jeder geht raus auf die Bühne und zeigt seine Energie und sein technisches Können. In "Don Quixote" fühlen sich die Tänzer besonders frei, haben beim Tanzen selbst sehr viel Spaß. Das ist wirklich ein völlig anderes, sehr schönes, temperamentvolles Ballett.

Haben Sie eine feste Tanz- Partnerin oder tanzen Sie mit allen Ballerinen?

Filin: Früher gab es im Bolschoi die Tradition der berühmten Paare wie Yekaterina Maximova und Vladimir Vassiliev, wie Nadezhda Pavlova und Vatcheslav Gordeyev. Jetzt ist es leider nicht mehr so. Vor vielen Jahren hatte ich eine Zeit lang eine feste Partnerin. Heute tanze ich mit allen. Und ich verrate Ihnen ein Geheimnis, mit Marianna Ryzhkina habe ich eben zum allerersten Mal getanzt.

Man sagt, dass es zwischen dem St. Petersburger Mariinsky und dem Moskauer Bolschoi-Ballett eine gewisse Rivalität gebe?

Filin: Vielleicht in der Ballettdirektion, nicht bei den Tänzern. Wir mögen uns, respektieren einander. Bei einer Gala in Mexiko auf einer Freilichtbühne mit 5000 Zuschauern sind drei Ensembles zusammen aufgetreten, das Mariinsky, das Bolschoi und das Kiewer Ballett. Da haben wir gespürt, dass wir aus einer gemeinsamen Tradition kommen. Richtig ist, dass das Bolschoi und das Mariinsky verschieden sind. Es liegt wohl auch an den Städten, Moskau ist ganz anders als St. Petersburg, vielleicht auch an der jeweils etwas anderen Ausbildung.

Seit der Öffnung Russlands tanzt das Bolschoi auch moderne Werke.

Filin: Ja, wir tanzen Stücke von Roland Petit, von dem Engländer Christopher Wheldon. Von John Neumeier haben wir den "Sommernachtstraum". Alexei Ratmansky, seit 2004 unser Direktor, hat diese neue Tendenz initiiert. Er selbst choreografiert auch. In einem seiner Ballette trage ich Frauenkleider und tanze auf Spitze . . . sehr lustig. Trotzdem bleibt das Bolschoi der Inbegriff des klassischen Balletts, interessant für die ganze Welt eben durch Klassiker wie "Schwanensee", "Giselle", "Don Quixote", "Raymonda", "Bayadère" .

In Deutschland gibt es einen Mangel an guten männlichen Tänzern. Wie steht es um den männlichen Nachwuchs im Bolschoi?

Filin: Es ist wohl tatsächlich so, dass sich viele überlegen, ob sie diesen harten Beruf wählen sollen. So gut bezahlt ist er nicht. Bei Mädchen ist es anders. Die träumen davon, Ballerina zu werden, ohne an die Zukunft zu denken. Auf zehn Mädchen kommt ein Junge, der tanzen will. Das ist wirklich ein Problem. Mein ältester Sohn, er wird jetzt elf, hat mir schon gesagt: Papa, nur nicht zum Ballett! Der jüngere ist erst ein Jahr und vier Monate. Der trippelt schon mal so in der Wohnung herum – aber ob er Tänzer werden will?

Wie erleben die Menschen das neue Russland?

Filin: Moskau hat sich total verändert. Überall die schicksten Geschäfte. In den Straßen fahren jetzt die teuersten Autos – die aus Deutschland kommen. Ich bin in diese Zeit hineingewachsen, finde es gut so. Aber es gibt so viele arme Menschen, die sich das alles nicht leisten können. Da muss sich etwas ändern. Meine Mutter übrigens sagt, dass die Zeit früher für sie die schönste war, selbst das Schlangestehen vor den Geschäften, und dass es nur ein oder zwei Wurstsorten gab und nicht von allem diese überdimensionale Auswahl.